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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
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Kritik

Mosaik des Lebens

„Anne-Marie die Schönheit“ könnte der Auftakt zu einer neuen Phase im Werk von Yasmina Reza sein
Hamburg

Wer das Gegenüber dieses knapp 80-seitigen Monologs ist, erfährt man nicht. Nur hin und wieder deutet ein eingeschobenes „Madame“ oder „Mademoiselle“ an, dass es ein Gegenüber geben könnte. Wahrscheinlich ist es jedoch nicht. Nachfragen gibt es keine, und die Person, die spricht, lebt schon lange alleine und zurückgezogen; Ehemann, Nachbarn, Freunde, ja, selbst der langjährige Hausarzt, sind seit geraumer Zeit verstorben. Und an die Jahre, als sie noch eine zwar nicht berühmte, aber doch halbwegs bekannte Theaterschauspielerin war, erinnert sich niemand mehr.

Ihren vollen Namen erfährt man an einer Stelle: Anne-Marie Mille. „Anne-Marie die Schönheit“, wie Freunde und Kollegen sie früher nannten, auf der Bühne, oder als sie einst in „hohen Stiefeln à la Nancy Sinatra“ posierte. „Doch auf der Bühne bleibt nichts zurück. Keine Spur, von niemandem“, wie sie nüchtern feststellt; der Satz umschreibt gut die Stimmung des Buches: Lebensbitterkeit und Alterslakonie.

In knappen Worten erfährt man Bruchstücke aus ihrem Leben, kleine Mosaiksteine, die sich über die Seiten zu einem schemenhaften Bild formen. Doch bleibt der Lebensbericht letztlich eine Skizze, was aber gerade seinen Reiz ausmacht; vielleicht darf man die bewusste Unschärfe auch dahingehend verstehen, dass sich die meisten Botschaften und Überzeugungen im Alter ohnehin verbraucht haben.

Anne-Marie hat einen 40-jährigen Sohn, dessen Körper erschlafft und dem die Haare ausgehen. Schon als Teenager hatte er sich vor allem für die großen Vermögen erfolgreicher Männer interessiert. Sein Vater hatte darin ein gutes Zeichen gesehen; doch hätte der Vater auch tägliche Elektroschocks und Folter akzeptiert, wenn man ihm gesagt hätte, dass das zum Alltag dazu gehöre. Dass die Ehe nicht sonderlich glücklich verlaufen ist, versteht sich von selbst: „Ich langeweilte mich mit meinem Mann“; und auch die knapp erwähnten Liebhaber vermochten keinen bleibenden Eindruck zu hinterlassen, abgesehen von dem einen, der – im wirklichen Leben ein Vertreter für Lederwaren – sie in die Verkleidung einer angesagten Fernsehansagerin zwang und als „Fernseh-Schlampe“ beschimpfte. „Wir verstanden uns gut.“  

Über die Eltern kaum mehr als Stichworte: Der Vater versuchte hin und wieder, sich aus dem Staub zu machen, kehrte aber immer wieder zurück. „Er kam spät nach Hause, legte seine Hände zu beiden Seiten des Tellers flach auf den Tisch, wer ist hier der Chef?“ Darauf die Versicherung: „Du bist der Chef, Papa.“ Die Mutter hatte mehrfach versucht, sich umzubringen, und die Tochter ausgelacht, als diese Gesangsunterricht nehmen wollte. 

Nur über eine Person erfährt man Näheres. Die Kollegin und einstige Freundin Giselle, genannt Gigi, von der es heißt, sie sei früher die Geliebte von Alain Delon gewesen, „und vielleicht von Ingmar Bergman“. „Wir waren zusammen am Théâtre de Clichy“. Sie hatte unzählige Bewunderer. Obwohl sie noch im Alter hin und wieder in Fernsehfilmen auftauchte, war ihre Flamme am Ende erkaltet. Als sie sich zufällig wiedertrafen, staunten sie, dass sie im selben Stadtviertel wohnten. Gestorben ist sie alleine. „Auf die Zuneigung der Kinder kann man sich nicht lange verlassen.“ Immerhin hatte sich ihre Tochter Corinne von dem Drogendealer getrennt, mit dem sie Jahre zuvor nach Mexiko durchgebrannt war, und war, nach Frankreich zurückgekehrt, katholisch geworden.

„Es heißt, die glücklichsten Leben sind diejenigen, in denen nicht viel passiert.“ Was damit zusammenhängen dürfte, dass die Erwartungen dann am geringsten sind. Anne-Marie jedenfalls hat abgeschlossen; sie möchte sich eine Urne kaufen, „[e]in elegantes Modell, aus Messing, schlicht graviert“, um zu verhindern, dass der Sohn „die billigste [nimmt], die jämmerlich aussieht.“ Ihre Asche soll in Nordafrika in alle Himmelsrichtungen davonfliegen.

„Anne-Marie die Schönheit“ ist ein düsteres Buch, ohne den Witz und die Ironie, die Yasmina Rezas bisheriges Werk auszeichnen. Und dennoch ist es ihr seit vielen Jahren bestes Buch. Womöglich hat die große Chronistin der Abgründe menschlicher Paarbeziehungen der mittleren Lebensjahre damit den Schritt in eine neue, vielversprechende Phase ihres Schreibens unternommen.   

Yasmina Reza
Anne-Marie die Schönheit
übersetzt von Frank Heibert, Hinrich Schmidt-Henkel
Hanser Verlage
2019 · 80 Seiten · 16,00 Euro
ISBN:
978-3-446-26378-9

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