Die Perspektive wechseln
Es wird viel geredet in Deutschland – seit über einem Jahr vor allem über Flüchtlinge. Vor allem: es wird viel Scheiße geredet. Mit Begriffen wie „Welle“, „Flut“, „Invasion“ wird die Sprache vergiftet. Auch von Leuten, die es eigentlich besser wissen sollten. Aber mancher fischt halt gerne aus Angst um Stimmverlust in dem Pegida-NPD-Identitären-Sumpf, aus dessen besorgtbürgerlicher Mitte heraus im letzten Jahr ein Krawallterrorismus entstand, der nicht nur Wortmüll, sondern auch brennende Asylheime (über tausend, immerhin) mit sich brachte. Die Nadelstreifennazis der AfD sondern nun schon in Parlamenten ihren fremdenfeindlichen Stuss ab, und sogar Dichter haben sich ihnen bereits angeschlossen. Schlechte Dichter. Zum Glück! Um diese braunen Kerne herum gruppiert sich etwas, das sich selbst zum „Volk“ ernannt hat und glücklich scheint, die eigenen Unzulänglichkeiten endlich wieder an einem klaren Feindbild ausagieren zu können.
Wie gesagt, es wird über Flüchtlinge gesprochen. Eher selten mal mit ihnen. Über. Und jeder glaubt, er hätte etwas Sinnhaftes dazu zu sagen. In seinem vierten Roman „Ohrfeige“ dreht Abbas Khider den Spieß um. Sein Protagonist Karim ist aus dem Irak geflohen und inmitten der Absurdität der deutschen, besser der bayerischen, Bürokratie gelandet. Bei Frau Schulz, um genau zu sein – Frau Schulz, die er an ihren Bürostuhl fesselt, ehe er sich einen Joint dreht und zu erzählen beginnt. Auf Arabisch. Frau Schulz hätte ihn so oder so nicht verstanden oder verstehen wollen. Jetzt spricht er, und nur das ist wichtig.
Er erzählt, wie er nach Deutschland kam. Nach Bayern, ausgerechnet. Mitten im Winter. Dabei wollte er eigentlich nach Frankreich, aber das nahm der Schlepper nicht so genau. Wie er ständig aufpassen musste, um nicht kontrolliert zu werden, denn die Polizei kontrolliert nur diejenigen, die irgendwie ausländisch aussehen. Dass Racial Profiling eigentlich untersagt ist, wen kratzt das schon? Schließlich wird Karim doch erwischt und von einer Asylunterkunft in die nächste geschubst, ohne dass die Gründe für ihn oder die anderen Flüchtlinge irgendwie transparent gemacht würden. Ihre Geschichten? Teilen sie untereinander. Auf dem Amt interessiert sich ohnehin niemand für die Wahrheit, und der Kontakt zu Deutschen ist spärlich und schwierig.
Karim hat ein irakisches Abitur, er will studieren. Aber er darf nicht. Sein Abi ist in Deutschland nichts wert, den Sprachkurs finanziert man ihm erst, wenn er ein Jahr gearbeitet hat, aber wie soll er das machen ohne Sprachkenntnisse? Und wie soll er sich durchschlagen? Es ist kurz nach der Jahrtausendwende, er hat ein Dach über dem Kopf, es gibt spärliche Essenspakete und achtzig Mark Taschengeld im Monat. Wer sich damit nicht abfinden will, der klaut entweder oder prostituiert sich. Mal auswärts einen Kaffee trinken oder einen Döner essen: der blanke, fast unerreichbare Luxus. Ansonsten verbringt man die immergleichen Tage däumchendrehend im Heim oder geht spazieren, versucht bis zur nächsten Behördeninfo, bis zu der Monate vergehen können, irgendwie die sich ewig dehnende Zeit totzuschlagen.
Manche halten sich an ihrer Hoffnung fest, dass es irgendwann besser wird. Doch dann kommt der 11. September und alles wird schlimmer. Plötzlich ist jeder verdächtig, wird auf der Straße gemieden, zum Polizeiverhör zitiert, als Spitzel angeworben. Einige machen mit, andere drehen durch. Und als Saddam gestürzt ist werden plötzlich reihenweise Asylanträge abgelehnt – ist ja jetzt demokratisch, können die Iraker ja zurück nach Bagdad. Dass das Land im Chaos untergeht und täglich Bomben explodieren – was kümmert er deutsche Aktenschubser?
Wir sind wie unverlangte Werbesendungen im Briefkasten
sagt Karim über sich und die anderen in der Asylunterkunft.
Eine Ohrfeige ist Khiders ganzer Roman – eine Ohrfeige für die Ämtermentalität, für den Bürokratie-Irrsinn, für die alltägliche Realität von Menschen, über die jeder spricht, aber mit denen kaum einer spricht. Diese Perspektive einzunehmen ist heute wichtiger denn je. Es ist ein Buch, das so einiges zurechtrückt, ein unbequemes Buch.
Fixpoetry 2016
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