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Kritik

Nicht schweigen über „Das Schweigen“

Enza Golin, die Hauptfigur von Ada Zapperi Zuckers Roman „Das Schweigen“, lässt am Totenbett ihrer Schwester ihr eigenes Leben Revue passieren. Das Verhältnis zu Rita ist weit entfernt von Liebe und Zuneigung, vielmehr empfindet sie Hass gegen die um 15 Jahre ältere Schwester, die geistig behindert und zeitlebens in sich selbst verschlossen war, zu der es kaum Kontakt gab, obwohl Rita und Enza immer unter einem Dach lebten. Nur selten und dann überaus widerwillig verlies Rita das Haus, duldete auch keine Menschen in ihrer Nähe. Rita sprach mit niemandem, strickte den ganzen Tag, wusch ständig ihre Hände, putzte und wischte immer alles manisch sauber.

Vor ihrer Geburt war Enzas Familie, Vater, Mutter und deren Tochter Rita, aus dem süditalienischen Kalabrien nach Norden gekommen, um Arbeit zu finden. Obwohl ihnen die Menschen sowie die bergigen Täler im Trentino stets fremd blieben, nicht einmal Italienisch erlernte die Mutter, beharrte auf ihrem kalabrischen Dialekt, bewirtschaften sie während des Zweiten Weltkriegs einen armseligen Bauernhof. In Weißenbach im Ahrntal kam Enza im Mai 1945 zur Welt.

Ihren Vater hatte sie nicht kennengelernt, da er vor ihrer Geburt gestorben war, und die Mutter sprach nie über ihn, war mürrisch und vom Leben angewidert, als wäre das Leben eine unerträgliche Last für sie, nichts als eine Strafe Gottes. Beharrlich verweigerte sie Enza jegliche Art von Liebe oder Zuneigung, niemals eine Umarmung, niemals eine Zärtlichkeit. Ein einziges Mal hatte sie ihre Tochter geküsst: und zwar an ihrem ersten Schultag auf die Stirne. Als Küchenhilfe in einem Restaurant brachte sie ihre beiden Töchter mehr schlecht als recht durch.

Mit zwanzig Jahren bekam Enza Arbeit im Grand Hotel am See, ernährte nunmehr Mutter und Schwester. Das Anfang des 20. Jahrhunderts erbaute Hotel befand sich in den 1960er Jahren in einem desolaten Zustand. Obwohl ursprünglich nur für die Buchhaltung zuständig, brachte sie nach und nach das Chaos in Ordnung, renovierte die Zimmer, sorgte für sanitäre Einrichtungen, leitete die Gespräche mit den Handwerkern. Es gelang ihr sogar, von der Gemeinde Förderungen zu erhalten. Dennoch machte die despotische Besitzerin Enza das Leben nicht leicht, jedoch brachte Enza das Hotel schließlich wieder in Schwung.

„Ich habe nichts anderes getan, als Gedanken und Wünsche – ausgesprochen oder unausgesprochen – derer zu erfüllen, die mir nahe waren; ohne Rücksicht auf das, was ich wirklich selbst wollte oder fühlte.“ (S. 36) „Könnte ich mich von meiner Vergangenheit befreien“, dachte sie müde, „ich würde wie ein leerer Sack zusammenfallen.“ (S. 35)

Das Schweigen ist ein zentrales Motiv, das sich durch das Buch zieht. Ein innerfamiliäres Geheimnis, das sich auf Enzas Geburt und die letzten Kriegstage bezieht. Ada Zapperi Zucker gelingt es, eine unglaubliche Spannung zu erzeugen. Wann wird endlich das Schweigen gebrochen werden? Äußerst geschickt bricht die Autorin den chronologischen Erzählfluss.

Der Sohn der Hotelbesitzerin verliebte sich in Enza. Carlo war um 28 Jahre älter und praktischer Arzt. Ein liebevoller Mann, mit dem sie drei Kinder hatte. Mit einem Mal wurde ihre Arbeitgeberin zur Schwiegermutter. Nicht Carlo, sondern Enza erbte das Hotel.

Irgendwann starb Carlo. Im Schlaf in seinem Bett. „Er, Arzt, hatte wie alle Ärzte vielleicht gewisse Anzeichen nicht ernst genommen, zumindest nicht so wie bei jedem seiner Patienten. Oder er wollte sie einfach ignorieren.“ Eindringlich und dennoch wie ganz nebenbei schildert Ada Zapperi Zucker diese berührende Szene. Großartig. (Chronologisch) davor noch ein Tod (im Buch erst später zu lesen): Jener der Mutter. Knapp vor ihrem Tod brach sie erstmals ihr Schweigen. Ein Geständnis, das Enzas Gleichgewicht aus dem Lot warf. Der Liebe und Geduld ihres Mannes verdankte sie, daran nicht zu zerbrechen. – Wieso? Das müssen Sie selbst lesen. Ich habe Ihnen genug erzählt. Scheinbar nebenher plaudernd, enthüllt sich ein ergreifendes Stück Literatur – und ein unglaubliches Leben, dennoch kein Einzelfall. Ada Zapperi Zucker, in Catania geboren, seit Jahren in Deutschland lebend, hat ein außergewöhnliches Buch geschrieben, das als Entdeckung zu loben und zu feiern ist.

Ada Zapperi Zucker
Das Schweigen
Übersetzung:
Dominikus Andergassen
Drava
2010 · 168 Seiten · 16,80 Euro
ISBN:
978-3-854356226

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