Sinn und Form | Viertes Heft – Juli/August 2015
Diese kleinen Zufälle, auf dem Schreibtisch liegt ein oranges Buch mit Frau vor Pfau auf dem Cover, ich besitze es seit 30 Jahren, ein Kurzgeschichtenband von Flannery O’Connor, A good man is hard to find. Tiefe Wahrheit, so obvious das auch klingen mag. An sowas erinnert man sich nun mal als Vater, wenn die Aufgabe ansteht, das fast erwachsene Töchterchen mit English zu traktieren und kramt es raus, non scolae sed vitae discimus (ungefähr, wird schon stimmen).
Diese Geschichten habe ich nie vergessen, es sind welche for crying out loud, die dem Gefängnis entwichenen ‚misfit‘ etwa. Oder die über jenen Bibelverkäufer im Süden der USA, der sich an das dicke, versehrte Mädchen ranmacht, in dem wilde Hoffnungen keimen, ja wuchern, er hat es aber nicht auf sie, sondern, wie nur Flannery o’Connor adäquat begründen kann, auf ihre Beinprothese abgesehen. Das ist nun ein gemeiner Spoiler für die schöne Geschichte, aber die Schuld liegt bei dem aktuellen Heft von Sinn und Form, das mittels einer Erzählung von Ricardo Piglia von einem Sammler berichtet, der eben jene Beinprothese in echt an sich gebracht zu haben vorgibt, so tunkt das Heft den Leser ein in die Erinnerungen seiner Autoren.
Piglia rennt durch Italien, genauer gesagt sein Alter Ego, Emilio Renzi, das über Pavese schreibt, heimgesucht von echten und eingebildeten Begegnungen mit Menschen aus dem falschen Kontinent und der falschen Zeit. Ach, fast das ganze Heft ist eine melancholische Retrospektive an vergangene Kontinente, so dass sogar ich, ein in der Wolle gefärbter Wessi (vielleicht infiziert von Marleen ‚Dorothy’ Stoessels Lobgesang auf die Zwänge in den Freiheiten der Synästhesie: Die Zwölf ist ein Löwe) mich in die alten Zeiten des Landes von Oz versetzt fühle, seine Spitzel-Mützen tragenden Bewohner im Bericht von Sonia Combe aufnehme, als wäre ich dabei gewesen.
Reminiszenzen hervorgerufen von Schriftsteller auf den Spuren toter Schriftsteller, der Archivfund einer Rede von Hans Henny Jahnn, die lauthalsen Nachrufe, etwa der von Kerstin Hensel über den Blechmann Karl Mickel, oder die Hoffnung weckende Lebensbericht von Frank Stückmann über die Strohscheuche Ernest Dowson, der dann leider nur brave Gedichte folgen. Erinnerungen an Großväterchen Strittmatter, auch ans Großmütterchen, es ist ein gar betuliches Heft, in dem ein Aufsätzchen über die Goetheschen Versuche an Cellini nicht exotisch wirkt.
Und dennoch: es hat etwas, während Sommers grausamer Hitze z.B. einen Text mit dem Namen ‚Ein Fisch im Eis‘ zu lesen oder auch einen Essay übers Klima (von Eva Horn) - genauer gesagt Klimaanlagen - und wie sie erschaffen, was sie verhindern wollen.
Anm. der Redaktion
Alle am Heft beteiligten Autoren:
Hans Henny Jahn, Sonia Combe, Ian Wedde, Eva Horn, Ricardo Piglia, Durs Grünbein, Robert Zapperi, Philippe Jaccottet, Marlen Stoessel, Gabriele Killert, Frank Stückemann, Ernest Dowson, Kerstin Hensel, Sigrid Damm, Marion Titze, Patrick Roth, Ina Hartwig, Klaus Völker, Günter Grass.
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