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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Adoleszenzgeschichte

Hamburg

Bei Zitaten von Autoren auf dem Cover werde ich meist skeptisch, ich meine zu wissen, wie sie zu Stande kommen. Auf diesem Cover steht zum Beispiel : Ich habe dieses Buch wie im Rausch gelesen – es war mir unmöglich aufzuhören. PAUL AUSTER  Nun gut. Jetzt aber, da ich dieses Buch selbst durchgelesen habe, muss ich zumindest zugeben, dass es mir so ging, wie von Auster beschrieben, ob sein Spruch nun auf einem eigenen Lektüreerlebnis beruht oder nicht. Auch ich habe dieses Buch in einem Zug gelesen, war gefesselt und berührt. Auch wenn der Titel des Buches und der für meine Begriffe etwas zu kitschig ausgefallene Schutzumschlag meine anfängliche Skepsis eher vermehrte, ließ ich mich eben nicht davon abbringen, den Deckel zu öffnen.

Das Original ist auf Englisch erschienen und heißt Major/Minor. Aber das ist Verlagspolitik und wenn die Titelwahl dazu führen sollte, dass mehr Menschen dieses Buch lesen, ist das ja auch in Ordnung. Aus dem Englischen übertragen hat den Text Frederike Meltendorf, und sie hat das hervorragend gemacht. An keiner Stelle hatte ich das Gefühl, im Original nachschlagen zu müssen. Meltendorfs Übertragung wirkt ausgesprochen organisch und gestattet einen angenehmen Lesefluss.

Das Buch erzählt eine Adoleszenzgeschichte im Paris der Achtzigerjahre. Punk ist die Mode der Jugend der Zeit. Die Icherzählerin ist die Tochter eines mehr oder weniger erfolgreichen Malers und seiner Frau, die weniger erfolgreich Gedichte verfasst und deren Ehrgeiz zur Veröffentlichung nicht sonderlich ausgeprägt ist.

Die Adoleszenz ist eine Zeit der Ablösung von den Eltern, eine Zeit auch des Kennenlernens der eigenen Persönlichkeit, in diesem Buch wird denn auch geschildert, wie dieser seiner Natur nach holprige Ablösungsprozess gleichzeitig ein Versichern der eigenen Wurzeln ist. Im Ausbruch ergibt sich die Sicht auf eigene Geschichte, die verflochten ist mit der politischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts.

Besonderheiten der eigenen Familie erscheinen der Erzählerin zunächst als Mangel, denn die Einzigartigkeit bedeutet das, was einen von den Freundinnen und Freunden trennt. Man möchte jedoch dazugehören, den anderen gleich sein, die ihre Ferien mit ihren Eltern an anderen zum Teil luxuriöseren Orten verbringen. Die familiäre Rückbindung ist eine Hürde, die man überwinden muss, um zu den Gleichaltrigen aufzuschließen. Dis ist eine Erkenntnis, die jeder mehr oder weniger gemacht hat und ein weiteres Mal macht, wenn die eigenen Kinder diesen Ablösungsprozess durchlaufen. Und später dann kann es zur Erfahrung kommen, dass gerade in der eigenen spezifischen Erfahrung genau das liegt, aus dem man Stärke und Produktivität zieht. Ein Hin und Her und in jeder Richtung stehen Hürden, aber es sind Hürden an denen die Protagonisten wachsen. Zum Beispiel wird in diesem Buch eine Amerikareise Albas zum großen Reinfall, obwohl sie dem sehnlichsten Wunsch des Mädchens entsprach.

Die Zeit des Aufbruchs ist aber eben auch eine Zeit, in der sich die Beziehung von eigener Familie und Herkunft und Gesellschaft in einem besonderen Licht ausbreitet. Eine Zeit voller Wahrheit und Fehlurteil.

Alba, das ist der Name der Icherzählerin, und die Autorin Alba Arikha macht aus ihrem autobiografischen Stoff keinen Hehl, wächst also in Paris auf. Ihr Vater ist der Maler Avigdor Arikha und ihr Patenonkel ist Samuel Beckett, Sam, wie er in der Familie genannt wird. Wow! Könnte man denken, wenn Becketts Geschenke für sein Patenkind und sein Verhalten nicht hin und wieder an der Lebenswelt der Pubertierenden vollkommen vorbei gingen. Nicht dass sie nicht mit Bedacht gewählt wären, aber sie sind eben für die Icherzählerin in ihrem Sinn nicht zu erfassen, zumindest nicht im Moment, da sie ihr zuteilwerden. Daraus ergeben sich für den Außenstehenden, also den Leser äußerst humorvolle Konstellationen.

Nicht so für Albas Vater, der an Becketts Lippen hängt und von der Sorge getragen wird, dass sein Kind die Bedeutung dieses Mannes nicht einzuschätzen weiß. Beckett aber ist es auch, der die ersten Schreibversuche der Protagonistin begleitet und mit ihr gemeinsam am Flügel sitzt, ihr vorspielt und sich von ihr vorspielen lässt.

Eine andere Ebene der Erzählung ist die von Albas Vater. Er verbrachte einen Teil seiner Kindheit, die Familie war aus der Bukowina geflohen, in der einst multikulturellen Stadt Czernowitz, der so viele bedeutende jüdische Künstler und Intellektuelle entstammen, bis sie von Faschismus und Krieg gnadenlos beendet wird. Dem schließen sich Lager, weitere Flucht und Vertreibung an. Er entdeckt sein zeichnerisches Talent und nutzt es, die Situation der Vertriebenen zu dokumentieren. Ein deutscher Offizier rettet gewissermaßen das Notizheft und veröffentlicht die Arbeiten nach dem Krieg unter eigenem Namen.  Avigdor Arikha tut sich schwer damit, in einem Prozess die Urheberrechte zurückzuerlangen.

Kaleidoskopartig fließen seine Erzählungen in die Romanhandlung ein, nicht als Rückblenden, aber als Momente einer aufkeimenden Nähe von Vater und Tochter, die sonst überdeckt ist von den notwendigen Auseinandersetzungen zwischen Pubertierenden und Eltern. Und immer wieder brechen seine Erzählungen unvermittelt ab. Das sind äußerst ergreifende Momente, wie auch die Besuche bei einer Tante in Israel. Eingebettet sind sie auch in die sozusagen normalen Auseinandersetzungen zwischen Vater und Tochter über Popmusik und Kleidungsstil. Alba versucht eine Zeitlang Punk zu sein.

Einige Zeichnungen Avigdor Arikhas sind dem Buch als Illustrationen beigegeben.

Der  Text gliedert sich in kurze Kapitel, die in großzügig gesetzte Absätze unterteilt sind, so dass das Kaleidoskopartige der Weltwahrnehmung der Protagonistin erhalten bleibt und damit den eingangs erwähnten Sog entfaltet.

Alba Arikha
Wörterbuch einer verlorenen Welt
Übersetzt von Friederike Meltendorf
Berlin Verlag
2014 · 256 Seiten · 19,99 Euro
ISBN:
978-3-8270-1102-2

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