Sterben lassen?
Ein Leipziger Literaturprofessor lehrte mich einst, dass die Literatur im Wesentlichen nur zwei Themen kennt: die Liebe und den Tod. Und strenggenommen gäbe es ohne den Tod auch keine Liebe, für die es sich zu kämpfen lohnt. Also kennt die Literatur nur ein Thema: den Tod. Folgen Leser, Schriftsteller und Literaturwissenschaftler dieser Auffassung, so ist der Tod und die Angst, die er im Menschen erzeugt, Keimzelle aller Erzählung. Die Erzählung ist dann wiederum das, was der Mensch dem Tod entgegensetzt, um die Zeiten wenigstens noch etwas länger zu überdauern. Ja, um etwas Pathos kommt man hier nicht herum.
In seiner Rede zur Entgegennahme des Literaturpreises der „Welt“ erzählt Albert Ostermaier von Vladimir Nabokov, der wiederum sagt, dass die Literatur in dem Augenblick entstand, als „ein Junge aus dem Neandertal gerannt kam […] und schrie, ein Wolf verfolge ihn, ohne dass dem so war.“ Nabokov hält den Schrei des Jungen für „die Sehnsucht nach den schreckgeweiteten Augen der anderen.“ Wäre dem so, könnte man meinen, die Literatur entstand aus dem pubertären Wunsch eines Einzelnen nach Aufmerksamkeit. Ostermaier hält dagegen: „Der Junge wollte sich verwandeln, wie sein Körper sich verwandelte und ihm fremd wurde: ein Tier, das aus ihm wuchs, die Haare auf dem Kinn, im Hals das Fauchen des Kehlkopfes, unter der Stirn das Nachdunkeln der Pupillen und überall die Haut, die zu eng wurde und sich bis zum Zerreißen straffte.“ Da begegnet uns der erwachende Eros im Sinne antiker, geistiger Schöpfertätigkeit.
Wozu dieses ganze Vorgeplänkel von Liebe, Tod und Ursprung der Literatur? Ganz einfach, der Junge, der dem vermeintlichen Tod von der Schippe sprang und Geschichten erfand, weil ihm seine Welt zu eng, zu fremd wurde, ist, wir ahnen es, Ostermaier selbst. Zumindest gibt es ein gewisses Identifikationspotential. In seiner Rede „Leben und sterben lassen“ erzählt Ostermaier nämlich die märchenhaft anmutende Geschichte, wie er zur Literatur kam. Durch zahllose Aufenthalte im Schlaraffenland der Großmutter, die den kleinen Albert mit Cornetto und deutschen Balladen vollstopfte. Nicht die schlechteste Pflege, meine ich.
Spätestens als die geliebte Großmutter starb, wurde der Tod im Leben Ostermaiers Wirklichkeit. „Der Tod war einer, den man in Bayern mit Schnaps überlisten konnte.“ Ostermaier wird das nie wirklich geglaubt haben, eine neuerliche Entfremdung fand dennoch statt. Der Ausweg: das Abtasten der Welt durch Sprache. Was folgt, sind kurze und kürzeste Beschreibungen seines lyrischen, dramatischen und erzählerischen Arbeitens. Das Umkreisen der eigenen Biographie zur Erkenntnis, Vergewisserung und Korrektur. Sein Fazit: „Man kann […] ein Leben nicht ins Reine schreiben.“
Auf zwanzigeinhalb großbedruckten Seiten versucht Albert Ostermaier seinen Weg zur und durch die Literatur zu beschreiben. Das gelingt ihm auch und liest sich sympathisch, weil Ostermaier das Pathos nicht scheut, wo es angebracht ist. Erkenntnisse für den Leser springen unterm Strich jedoch wenige heraus. Literatur, das ist der ständige Abgleich von Ich und Welt, ist der Befreiungsversuch vom Tod durch die Fiktion. So etwa könnte die Formel lauten, auf die man das alles reduzieren kann.
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