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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Chiffrierter Geheimnisträger statt Volkstümelei

Alexander Graeff und seine ganz eigene (Runen)Schrift
Hamburg

Dass Hundehalter sich im Laufe der Zeit dem Charakter (und oftmals auch der Optik) ihres Schützlings anpassen würden, wurde bereits in jeder Zeitschrift von Lisa bis Focus ausgiebig behauptet. Gleiches soll auch für Menschen gelten, die lange zusammenleben. Als männliche Hälfte eines Ehepaares, das die Petersilienhochzeit bereits deutlich hinter sich gelassen hat, ist es mir erfreulicherweise dennoch gelungen, trotz innigster Verbundenheit in einigen Bereichen Freiräume und eigene Ansichten zu bewahren. Während meine Frau und ich bei Musik noch eine große und unkomplizierte Schnittmenge haben, tun sich vor dem Fernseher erste Risse auf. Am deutlichsten aber ist es im Bereich der Literatur. Sie hört es nicht gerne, aber meine Frau ist eine ungeduldige und nicht besonders vielschichtige Leserin, die historische Romane und Fantasy mit klar strukturiertem Personal und straighter Handlung bevorzugt. Tausende von Seiten werden quasi eingeatmet, 600-Seiter en bloc verschlungen.

Zwei oder drei Tage ist es her, da kam sie mit seltsam verkniffenem Gesicht von der Gästetoilette. Ein Fremder hätte auf schmerzhafte Verdauungsprobleme getippt; ich aber kenne meine Frau und ihre Gesichter selbstverständlich ganz genau. Ihre Mimik hatte ihren Ursprung in den "Runen" von Alexander Graeff, einer Sammlung von Prosaminiaturen, die ich zuoberst auf dem Stapel der aktuellen Klolektüre platziert hatte.

Runen sind, ich darf, ehe ich das Rad bzw. die Schrift neu erfinde, kurz auf Wikipedia sowie das ebenso fachkundige wie poetische Nachwort von Claudia Kanz zurückgreifen, die alten Schriftzeichen der Germanen, die für einen Laut oder einen bestimmten Begriff stehen, aber auch Zahlen darstellen oder als magische Zeichen verwendet werden können. Sie stellen keine flüssige Gebrauchsschrift dar, eigenen sich insofern eigentlich nicht zur Prosa sondern eher dazu, ein Zeichen zu setzen (was ein zärtlicher Kuss auf die Wange ebenso sein kann wie ein regelverletzender Tritt zur rechten Zeit, um die Mannschaft aus ihrer Lethargie zu reißen).

Als ich mir die "Runen" zur Rezension bestellt habe, rechnete ich also mit einem Buch voller Verschlüsselungen, kryptischer Schlängeleien und gut gesetzter Metaphern; mit einem Buch, in dem es nicht darum geht, Geschichten zu erzählen und Zusammenhänge stringent abzuarbeiten, sondern den Geist des Lesers auf mehreren Ebenen assoziativ herauszufordern. Ebenso suggerierte mir der Buchtitel eine gewisse Zeitlosigkeit, da der zeitliche Ursprung der Runenschrift kein aktuelles Thema und bis heute im Grunde unbekannt ist. Nun, ein solches Buch habe ich erwartet  – und genau das habe ich bekommen.

Der erste Impuls, dass Alexander Graeff mit seinen psychogrammatischen Texten darauf zielen könnte, der Leserschaft Rätsel aufzugeben, wird schnell von dem Eindruck überlagert, dass seine Prosaminiaturen in erster Linie dazu dienen dürften, sich über den literarischen Weg selbst zu entschlüsseln. Traumdeuterisch nähert er sich den eigenen Befindlichkeiten, installiert Metaphern für Vieles, das sich in Klarschrift vielleicht nur halbgar ausdrücken ließe, wodurch bei vielen der 22 Texte das Gefühl entsteht, der Autor stehe neben und beobachte sich, schaue zu, wie sich sein Geist und sein Körper in dieser Welt schlagen:

Wo das Herzstück ist

Ich parfümiere mich vorm Zeitungslesen.
           Ganz plötzlich versammeln sich bewegte Frauen, Männer, Frauen. Auf einen ersten Blick nur die Bewegung eines vergessenen Windes, der den Januarstaub aufwirbelt. Weil da ein Herzstück ist: eine königsblaue Koralle.
           Aber es sind doch bloß Bilder, entschuldigen sich die Stocktauben, die Achtlosen: Götter des Nordens. Vergessenheit bleibt ein sonderbares Zeichen, wer liest, hat noch lange nicht verstanden. Man muss das alles hinter sich lassen, etwas Sinnvolles tun. Zum Beispiel Praktikum beim Fernsehen machen.

Und wenn ich dann in der Gruppe gehe, verändert sich der Gang. Kein Nachtwandeln mehr, kein familiärer Marsch. Weil: Da! Schau hin, da unten an dem königlichen Punkt meiner Ferse, dort beginnt die Veränderung, sickert mir durchs Schienbein und engagiert mein Gehen. Und aus hart erkämpftem Ich wird wieder Man:
           Wenn man also in der Gruppe geht, verändert sich der Gang. Kein Nachtwandeln mehr, kein familiärer Marsch. Da ist niemand, der vermitteln will. Keine Bergpredigten. Man ist gesellschaftsfähig geworden. Auf einen zweiten Blick.

Graeffs Miniaturen werden flankiert von Zeichnungen von Andrea Schmidt, die ebenfalls eher auf dem Feld der Deutungen als im Gegenstand verhaftet sind – zu Flächen verdichtete Kringel, Schraffuren wie Schürfwunden, landschaftliche, an anderer Stelle ornamental / pflanzlich daherkommende, wie unter einem Mikroskop betrachtete Strukturen, und Striche, viele Striche, die an Knastwände erinnern und auf eine baldige Heilung bzw. Entlassung hoffen lassen.

Mit "Runen", dem nach Bänden von Achim Wagner, Jürgen Ploog und einer Westfalen-Anthologie vierten Buch im aus der gleichnamigen Literaturzeitschrift hervorgegangenen [SIC]-Literaturverlag, beweisen dessen Herausgeber erneut ihr Gespür für starke Texte.

Alexander Graeff
Runen
Mit Zeichnungen von Andrea Schmidt
[SIC] - Literaturverlag
101 Seiten · 12,00 Euro
ISBN:
978-3981358735

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