Planet Nitzberg
Kein Buch lässt sich völlig unvoreingenommen lesen. Das wissen wir spätestens seit Gérard Genette uns die Paratexte erklärt hat. Paratexte, das sind die Texte, die den Haupttext wie kleine Sterne und Planeten umkreisen und uns eine Vorahnung davon geben, was uns erwarten könnte. Dazu gehören der Titel, Widmungen, Motti und vor allem die Klappentexte. Im Klappentext von Alexander Nitzbergs neuem Gedichtband steht: „Mit seinem Farbenklavier unternimmt Alexander Nitzberg nicht weniger als die Begründung eines neuen Genres: der Interstellardichtung. Er zündet Farb- und Klangtriebwerke und schießt unsere Sprachsatelliten in neue Umlaufbahnen: kosmisch, magisch, virtuos.“
Da wurde ich hellhörig, ließ mich zudem vom vorgesetzten Henry-Miller-Motto ködern und blätterte erst mal locker durch den Band. Nach zwei Appetizern folgen im ersten Teil 24 Préludes, die ca. die Hälfte des Bandes ausmachen. Dann Deux Poèmes, ein Sonaten-Zyklus und einige einzelne Gedichte. Danach ein zweiter Teil mit „Verstreuten Gedichten“. Ich stelle mir also vor, wie Nitzbergs Gedichte einen weiten Bogen, eine Umlaufbahn beschreiben, in der verschiedene Himmelskörper aus Versstaub und Wortkristall einander anziehen, sich verdichten und nach einem großen Knall wieder zerstreut werden. Zu diesem Zeitpunkt habe ich noch kein einziges Gedicht aus dem „Farbenklavier“ gelesen, wurde aber offensichtlich von dem erfasst, was Henry Miller „that far-out cosmic itch“ nennt.
Und tatsächlich, meine Naivität scheint nicht allzu weit hergeholt, denn sie spiegelt sich bereits im ersten Prélude: „Also: Die Pulse bellen, / auch die Pupillen sind / kreisende grüne Libellen, / sommergesinnt! // Sommer: des Südens Winter / mit seiner benebelnden Näh, / wieder streut in den Wind er / Blütenschnee!“ Angesichts solcher Verse kommt man nicht umhin sich ein wenig einlullen zu lassen, oder aber sofort skeptisch zu werden ob der entlaufenen Romantik eines Heinrich Heine. Heine? Aber natürlich, denn da ist ja noch die letzte Strophe: „Man fülle die Wasserpistole / und ballere sich ins Ohr, / daß dort die glühende Kohle / nicht verschmor'!“ Da hat Nitzberg gerade noch einmal die Kurve gekriegt und sich in den altbewährten ironischen Bruch gerettet. Wer jetzt nach dem Interstellaren fragt, ist entweder ungeduldig oder aber genauso vergesslich wie ich. Denn die Beschreibung des Kosmischen gelingt selbstverständlich nur in Abgrenzung zum Irdischen. Und so kommt es, dass Nitzberg nie vollständig abhebt, sondern immer die Wechselwirkungen zwischen Weltall, Erde und Mensch im Blick hat. So auch im neunten Prélude:
Sterne: zu Licht erstarrtes
Tönen am Firmament.
Das silberne Horn Astartes
schallt permanent.Niemals sollen verstummen
die Venus und der Saturn
mit ihrem kosmischen Summen
und Surrn.Denn was ich als Noten ordne,
ist des Himmels-Kopie
oder: musikgewordne
Horoskopie.
Die Rhythmik und Musikalität von Nitzbergs Gedichten kommt nicht von ungefähr. Mit einem unerschütterlichen Formwillen gestaltet der Autor seine Texte ausschließlich als Zwölfzeiler, die entweder in drei Quartetten oder in vier Terzetten daherkommen. Darüber hinaus gilt der russische Komponist Alexander Skrjabin als „heimlicher Einflüsterer“ Nitzbergs. Skrjabin entwickelte nicht nur eine Klaviatur mit Ton-Farbe-Zuordnung, sondern ist auch der Schöpfer von unter anderem 24 Préludes und Klavierwerken, die er als Poèmes bezeichnete. So fließt im „Farbenklavier“ schließlich alles zusammen. Ähnlich der kurzen Klavierstücke von Skrjabin sind die Gedichte von Nitzberg in sich geschlossene Miniaturen, die Raum zur Assoziation lassen. Sie laden zu einer Reise durch den unendlichen Raum ein, in dem Milliarden Staubkörner ineinandergreifen und zu einem großen Ganzen werden. Was das große Ganze ist, bleibt dabei die ewig wiederkehrende, ewig offene Frage, die ihre Kreise um die Menschheit zieht. Dieses verzweifelte Pathos ist berechtigt, denn auch Nitzberg weiß, dass der Mensch, wann immer er sich ins Unbekannte aufmacht, die Augen auch nach dem Göttlichen offen hält. „Euch donnernden Götterworten / droht ein verhallen im Raum, / kaum keuchen die müden Aorten / ihr Amen und Aum.“
Die erwartete Reise durch den Kosmos findet also tatsächlich statt. Die vom Klappentext versprochene Interstellardichtung ist dafür der Katalysator. Doch leider holt sie mich allzu oft und allzu schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück, weil sie sich nie richtig ablöst und mancherorts dem Irdischen zu sehr verhaftet bleibt. Was fehlt, ist der Mut zum Experiment, der Ausbruch aus der Umlaufbahn.
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