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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Dies hier ist kein offenes Haus

In seinem Roman Judas beleuchtet Amos Oz die Tradition falscher Akzentsetzungen
Hamburg

„Er stand da und überlegte.“ Auch der allerletzte Satz in Amos Oz‘ Roman Judas belässt seinen Protagonisten in der Rolle des Zauderers. Schmuel Asch wäre als 25-Jähriger eigentlich für selbstbewusste Aktion prädestiniert. Doch auf beinah allen Gebieten ist er ein Schlemiel, ein Pechvogel wie etwa bei Bernard Malamud zu begutachten, denn nach einer lieblosen Kindheit (Schlafplatz auf dem Flur) will ihm nichts ganz gelingen:  Seine Freundin verlässt ihn, wohl wegen seiner Wankelmütigkeit,  gar Weinerlichkeit, um ihren Jugendfreund zu heiraten, einen „fleißigen und schweigsamen Hydrologen, […] der fast immer im Voraus wusste, was sie wollte.“ Die Eltern können sein Studium nicht länger finanzieren. Das Studium selber gibt er daraufhin auf. Er hatte sich schließlich auch in seinen Hausarbeiten „Jesus in den Augen der Juden“ und „Judas in der Perspektive der Juden“ heillos verrannt. Zerrissen, enttäuscht, antriebs-, entscheidungsschwach, ohne Freunde (auch sein „Arbeitskreis zur sozialistischen Erneuerung“ hat sich aufgelöst) erscheint Schmuel aber nicht nur – Assoziationen zu Wilhelm Genazinos Sonderlingen drängen sich manchmal in ihrer Komik frappant auf – als psychologisches Studienobjekt eines singulären Falls sondern insbesondere als ein Spiegelbild des jungen Staats Israel, seiner Konstituierung sowie seiner Anfangsjahre bis zum Handlungszeitraum des Romans, November 1959 bis März 1960.

Um Schmuel in einen Gesellschaft, Staat und „so etwas wie die Frage nach Religiosität“ (Oz‘ bewusst tiefstaplerisch gehaltene Wendung am Romananfang), insgesamt also das Menschenleben als solches reflektierenden Handlungsstrom zu integrieren, lässt Oz seinen Protagonisten, „Sozialist und Asthmatiker“, in seiner Ratlosigkeit auf eine Annonce reagieren, ein „Angebot einer persönlichen Beziehung“, die ihn dann mit zwei älteren jüdischen Mitbürgern zusammenführt in deren Haus weit draußen, an ein arabisches Viertel Jerusalems angrenzend, recht kafkaesk das Ganze:

Der Abstand zwischen den beiden Torflügeln war gerade groß genug, um sich hindurchzuschieben, ohne mit den Schultern anzustoßen.

Schmuel zieht also um,

Poster mit Abbildungen des Gekreuzigten in den Armen seiner Mutter und Poster mit Helden der kubanischen Revolution

mitführend; wohnt nun zusammen mit Atalja Abrabanel, 45, und ihrem gehbehinderten Schwiegervater Gerschom Wald, 70, dem Schmuel täglich bis zu sechs Stunden vor dem Zubettgehen Gesellschaft zu leisten hat. Aber auch diejenigen lieben Menschen, die den beiden inzwischen verloren gegangen sind, werfen lange, allgegenwärtige Schatten in diesen merkwürdigen bis absonderlichen Haushalt: Ataljas Vater war in den erbitterten Richtungskämpfen vor der Staatsgründung Israels als araberfreundlicher Gegenspieler Ben Gurions, als „Verräter“ auf der Strecke geblieben; unter entsetzlichen Umständen war bei Kampfhandlungen mit den Palästinensern Jahre zuvor Ataljas Ehemann zu Tode gekommen, Walds Sohn, Atalja kinderlos zurücklassend. So erlebt Schmuel in diesem Haushalt zwar teilweise rührend unbeholfene Kleinstversuche in Richtung Zuneigung und Verständnis, die auch wegen seiner eigenen emotionalen Defizite bzw. intellektuellen Überbetonungen scheitern, doch insgesamt ist dieses israelische Heim des Jahres 1959/60 ein Hort von: Geheimnistuerei, Handeln ins Leere hinein, falschem Stolz eingebettet in einen Tonfall von Frustration und Zynismus.

Atalja, mysteriöse Privatdetektivin, fühlt sich befleißigt zu verschweigen, was des Ausdrucks bedürfte („Lassen Sie sich ja nicht einfallen, mich zu suchen. Nie.“) und Schmuel als einem weiteren kurzfristigen Hausgast ihre Enttäuschungen als überlegene Lebensweisheiten vorzuführen,  ihn dabei sofort  einzuschüchtern („Dies hier ist kein offenes Haus.“);  ihn auch angesichts Schmuels Verklemmtheit – beinah zwangsläufig - sexuell zu benutzen.   

Der alte Wald wiederum, Zionist der ersten Stunde, (Ben Gurion, sagt er, „verbessert die Welt dadurch, dass er ein großer Realist ist.“) tritt Schmuel in ähnlich bevormundender Attitüde gegenüber, auch er anfänglich vor allem krampfhaft auf Distanz bedacht: “Unter gar keinen Umständen wollte er sich von Schmuel helfen lassen.“ Seiner großen Einsamkeit in stundenlangen Telefonaten mit „einem seiner drei, vier alten Feinde“ scheinbar entgegenwirkend, hält er auch Schmuel aus dem Rollstuhl heraus pompöse Vorlesungen, welche den zionistischen sowie jüdisch-religiösen Standpunkt verteidigen. Gerade die Person des Wald (prinzipiell wie auch Atalja möglicherweise ein ganz netter Mensch) ist für den Romangegenstand allerdings zentral, können doch gerade seine Plädoyers sowie die Zwiegespräche mit dem Protagonisten über Staat, Philosophie, Literatur, Religion (Wald trotz all seiner unerbittlich-knorrigen Räsonnements: „Ich glaube an keine Form der Weltverbesserung.“) schließlich des Autors Anklage in seinem Roman Judas zu Tage bringen: die nämlich der vergeudeten Talente, der falschen Schwerpunkte auf all diesen Israel tangierenden Gebieten. Es entfaltet sich Amos Oz‘ Scham über die vertane Zeit. Vordergründig bis 1960 nur, aber wohl auch bis zum heutigen Tag.

Dann also zu Jesus und Judas in diesem Roman: Eine von Schmuels Hausarbeiten trägt den Titel „Judas in der Perspektive der Juden“. Natürlich, möchte man sagen, musste er mit diesem Thema in Israel scheitern, denn wird nicht auch heute dort ein durchschnittlicher  Rabbiner sagen: Eine geschichtliche Existenz des Jesus ist nicht nachgewiesen, für Christen ist er zentral, unwichtig für Juden.

Oz hingegen referiert in mehreren Kapiteln des Romans – manchmal gar ein wenig widerwillig in den Handlungskontext eingewoben – mit wissenschaftlichem Anstrich frühe jüdische Quellen, die sich eben doch mit der Figur des Jesus und des Judas auseinandersetzten, u. z. nicht nur in herabmindernder Weise, da Jesus etwa als „‘jener Mensch‘“ bezeichnet wird. So kritisiert Oz seine jüdischen Vorfahren, die im Babylonischen Talmud manche Bezüge auf einen historischen Jesus im Druck tilgen ließen,

weil die Juden eine heillose Angst davor hatten, was ihnen geschehen würde, wenn die Christen zufällig  diese Abschnitte entdeckten.

Auf der Romanebene lässt er den alten Wald erbost abwinken, wenn der nämlich solche Renegaten nicht als Juden sondern „alle möglichen Narren“ betitelt.

Judas bedeutet uns erst recht nichts, dürfen wir Rabbiner sagen hören, sei Teil der christlichen Darlegung, nicht der jüdischen.  Schmuel rebelliert gegen dieses überwiegende Totschweigen des Judas und notiert:

Vielleicht fürchteten sie, diesen Mann zu erwähnen, weil sich um seine Gestalt in achtzig Generationen unendlich viel Hass und Abscheu angestaut hatten. Nicht aufwecken. Nicht daran rühren.

Aber, Ihr Christen, so Oz weiter und seine Kritikfähigkeit gegen alle Seiten hin beweisend: Wer war denn der erste von Euch? Ihr wisst es nicht? Ja, Judas eben. Gerade der nämlich baute auf gottgleiche Eigenschaften bei Jesus: Würde der nicht selbstverständlicherweise rechtzeitig vom Kreuz herabsteigen, nachdem er an anderen doch all die Wunder gewirkt hatte? (Und ganz nebenbei: Judas sei recht wohlhabend gewesen, ein Bestechungsgeld ist deshalb genauso unwahrscheinlich wie überhaupt die Version, jemand hätte vor Ort die Identität Jesus‘ anzeigen müssen bei dessen Bekanntheitsgrad auch in Jerusalem. Und: „Vielleicht küsste er Jesus, um ihm Mut zu machen.“)

Ja, all die sog. Verräter! Sind sie nicht auch Wohltäter?

Wie die reine Romanfigur in Judas: Schmuel, der Protagonist,  „Verräter“ durch die provozierende Themenauswahl seiner wissenschaftlichen Arbeiten;

die Romanfigur als Nachbildung einer historischen Persönlichkeit: Ataljas Vater, „Verräter“ im zionistisch-politischen Kontext;

die geschichtliche bzw. sagenhafte Figur in den religiösen Kontexten des Juden- und des Christentums: Jesus, der Teilweise-Renegat für die Juden; Judas, „Verräter“ für die Christen;

schließlich die Person des Schriftstellers: Oz, als Aufklärer unbeliebt bei seinen orthodox-religiösen israelischen Zeitgenossen.

Von seiner Struktur her ist der Roman in 51 kurze Kapitel unterteilt, von denen einige deutlich der religionstheoretischen bzw. staatspolitischen Diskussion vorbehalten sind; daneben verwendet Amos Oz auch einige Male seine geliebte Briefform.

Vom rein Dichterischen hat der Roman seine Höhepunkte bei manch Atmosphärischem zu Jerusalem, dort durchaus liebevoll getönt:

Honiglicht, ein Licht das Jerusalem, zwischen einem Regenfall und dem nächsten, an klaren Wintertagen streichelt.

sowie bei den oft überaus komischen Kennzeichnungen seines traurigen Helden, welche unsinnigen Idealismus, Hingabe an das Unwesentliche, schließlich ausbleibendes Erwachsenwerden entlarven:

Einmal träumte er von einer Begegnung mit Stalin. -
Hingegen irrte er sich nie, wenn er mit Nachdruck anführte […], wer von den Jüngern Jesu weniger sprach als die anderen. -
Nach dem Kaffee puderte Schmuel Bart und Haare mit duftendem Babypuder, als würden seine wilden Locken vorzeitig ergrauen.“

Geschickt verpackt Oz seine eigene aufklärerische Position in Aussagen und Handlungsweisen verschiedener Romanfiguren, wobei der Ausspruch einer jungen Reporterin, in einem Cafe Jerusalems getätigt, Aufmerksamkeit verdient:

Bei uns hat man schon ganz vergessen, dass es außer Grundsätzen und Idealismus auch noch so etwas gibt wie Mitleid.

Doch welchen Grad von Hoffnung lässt Oz via Romanende aufblitzen? Ja, Schmuel Asch scheint schließlich doch noch eine Art Befreiungsschlag gelingen zu können: Nach wiederholten Versuchen kehrt er Jerusalem schließlich den Rücken, kann sich eine Zukunft in der Pionierstadt am Ramon-Krater des Negev vorstellen.  Aber ob er über die Zwischenstation Beer Sheva wirklich hinauskommt, bleibt offen (s. Anfang dieser Besprechung). So verhindert Amos Oz immerhin eine gänzlich hoffnungslose Perspektive für sein Israel, das er sich wohl als ein aktives, handlungsfrohes Land wünscht, von pragmatischen Zielen geleitet, die wahres Leben, echtes Zusammenleben ermöglichen könnten.  

Von wem sonst - ihr wunderbarer (Jugend-) Roman Nathan und seine Kinder wäre geradezu parallel zu Judas zu lesen - als von Mirjam Pressler, Übersetzerpreis Leipziger Buchmesse 2015, ließe sich eine einfühlsamere Übertragung von Judas erwarten? (Allerdings: Warum nur die mehrfach gebrauchte Wendung „in [statt: aus] der Perspektive“?)

Amos Oz‘ neuer Roman Judas ist lesenswert. In farbprächtig - belletristischer Umkleidung behandelt er passagenweise mit wissenschaftlichem Habitus und auf bewusst polemische Weise religiöse und politische Thematiken um das Judentum in seiner Beziehung zum Christentum sowie die Gründung und das erste Jahrzehnt des Staates Israels. Das Werk hat ein klares Ziel: Gewissheiten zu erschüttern, Dogmen zu entlarven, um sie – hoffentlich und, mein Gott: Zeit wär‘s -  gegen Menschlichkeit einzutauschen.

Amos Oz
Judas
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
Suhrkamp
2015 · 335 Seiten · 22,95 Euro
ISBN:
978-3-518-42479-7

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