Ein Buch ist eine Stadt
Am 26.08.2012 um 17:34 landete ich in Cyberspasz, einem Buch, das eigentlich eine Stadt ist, eine Migropole, ein Wohnmeer, durchschnitten von Magistralen, ein Gedicht, eine Erfindung, zu real, um darin zu leben, der Asphalt schmilzt, es brennt an jeder Ecke, die Tage sind dünn, wie Zelluloid, unter den Milchglastischen liegen blaue Blumen oder tote Hasen, und wer nicht von herabfallenden Ziegelsteinen erschlagen wird, wird es von der Anzahl der Netzanbieter. Ich nehme ein Taxi, der Fahrer kommt mir bekannt vor, es ist der Schwarze Josh, der sich in der dritten Story eines jazzthetischen Touristen väterlich annimmt. Der frischverliebte Florin sammelt Platten und biografische Bruchstücke des Musikers Roland Kirk, dessen ans Überirdische grenzende Virtuosität ihn wie eine Erfindung erscheinen ließe, wäre dies nicht in einer ebenso mitreißenden und musikalischen Sprache geschrieben, von einem real existierenden Autor, der unter uns weilt:
Sie bewegen sich nicht, sie werden von der Sprache bewegt, geben den eingeschlossenen, den verschlossenen Worten Raum. Und befreien sie aus ihrer Enge. Der Rest ist einfach. Florin braucht sich nicht mehr anzustrengen. (...) Es ging ihm darum die Unschuld und Ehrlichkeit der Musik zu feiern, damit sie zu einer Bestätigung unserer Ewigkeit wird. Danach setzt ein Wachstum ein. Jedes Stück hat seine eigene DNA. Wenn er in der Stadt war, besuchte er die Studios mit seinem Blindenstock, an dem seine Instrumente bandagiert waren. Er war ein kraftvoller Mann mit einem enormen Appetit auf das Leben, der sich furchtlos um die Hindernisse herum bewegte. Im Konstrast dazu seine tastenden Hände, welche die Umgebung bürsteten und Informationen absorbierten. Ich schloss die Augen, wenn ich mit ihm redete, weil ich jeden Vorteil brauchte, den ich kriegen konnte.
Aber: Kann man verreisen, wenn man frisch verliebt ist? Auch die Liebe ist eine Reise, eine Reise zum eigenen Ursprung, wie Florin zum Ursprung der Musik von Raashan reist, wie der Ursprung der Musik von Raashan die Inspiration ist, wie der Ursprung der Inspiration dieser Novelle die knisternde Erotik zwischen Fatima und Florin ist, wie der Ursprung der knisternden Erotik zwischen Fatima und Florin eine Begegnung auf dem Flohmarkt ist, wie die Begegnung auf dem Flohmarkt Ursprung der Novelle ist ... Die Amerikaner nennen es great, doch was wirklich great ist, liegt im Spannungsverhältnis zwischen den Noten der Jazz-Komposition von Kirk – wie zwischen den Worten des Text-Kosmos von Weigoni ... Das ›Neue‹in der Novelle ist dabei nicht nur die Verortung in der heutigen Zeit, sondern auch der stilistische Vorgriff auf die Zukunft. Vor dem Hintergrund einer dauerhaft unterwegs seienden, medialisierten Gesellschaft gräbt Florin, auf den Spuren seiner Leidenschaft und begleitet von ihr, nach einer wahren Geschichte. Verstörend, die poetisierten O-Töne der nach Rahsaan Befragten. Indem sie den Musiker beleuchten, werden sie selbst zu Musik.
Im Zentrum schaue ich ratlos auf die Hieroglyphen des Netzplans. „Was ist daran so schwierig“, frotzelt Josh, „das Prinzip ist doch einfach: der 96er Bus fährt in der 96. Straße.“ – Aber die Einfachheit ist ein Trugschluss – die Straßen sind zu lang, als dass die Zahlen allein mir nützen könnten. Jeder, der schon mal ein Haus auf der 110. Straße gesucht hat, weiß, dass diese Straße ein Tagesmarsch ist und dass man wissen muss, wo die U-Bahnlinien A, B und C kreuzen, und dass man dann auch noch wissen muss, auf welcher Seite man den letzten Rest zu Fuß geht. Broadway kann okay sein, während Amsterdam schon wieder Schauplatz einer Straßenschlacht ist.
Weigoni gelingt es, das System, nach dem die großstädtischen Gesellschaften sortiert sind - und bei dem der Mensch mit seinen Bedürfnissen leer ausgeht - mit seiner Sprache zu durchkreuzen, zu durchleuchten. Neue Kapitel fangen meist mit Ein- oder Zweiwortsätzen an, beschleunigen dann mit länger werdenden Satzbauten und überscharfen Beschreibungen, um schließlich im Widerstreit, ob nun Schrecken oder Schönheit überwiegt, zu enden.
Mit dieser Stimmung besuche ich Vera, unbestritten eine Schönheit, ebenso Künstlerin und Cyberfrau, prädestiniert dazu, imMetropolitan Museum of Modern Art ausgestellt zu werden, wenn sie denn eine echte Amerikanerin wäre. Vera wohnt im obersten Stockwerk (und in der 1. Novelle) und weiß nicht, wie sie durch die Gegensprechanlage klingt, dafür aber, dass ich sie besuchen komme, bereits durchs Internet. Ihr Rechner spinnt, Freund Jack muss helfen, aber ist die Lösung des Problems die Behebung des Fehlers oder ist der Fehler die Lösung des Problems? Die Annäherung von Mensch und Maschine ist so weit fortgeschritten, dass die Beantwortung der Frage weder möglich noch sinnvoll erscheint. Selbst die Treppenhäuser der Wolkenkratzer, die wie Reißverschlüsse glänzen, verwischen den Unterschied zwischen Beton- und Biomasse und wollen mir weismachen, dass die Stadt ein großes Lebewesen ist. Der Protagonist Jack ist so präzise gezeichnet, dass ich auch das, was von seinem Charakter nicht beschrieben wird, vor mir sehe: Er mag keine Gesellschaftsspiele, trägt sommers wie winters dieselbe Jacke und liebt blaue Bilder. Er hat die Realitäten umgedreht: Der Weg durch die Stadt zu Vera ist für ihn ein Weg durch unüberschaubare Datenfluten – die Wege, die er im Netz zurücklegt, hingegen die heimeligen Flure seines Zuhauses ... Gerät das A.L. (Artificial Life) außer Kontrolle? Kann die A.I. (Artificial Intelligence) das verhindern? Ist Jack die A.I? oder Vera? Oder beide? ...
Autofiktion. Im Netz gibt es mindestens drei Obzessionen: ein Verschwörungsfieber, das die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge auflöst. Ein Sammler und Anarchivierungswahn, der nur mit unbegrenztem Speicherplatz denkbar ist und ein Detailfetischismus, der aus nebensächlichsten Informationen geheime Bedeutungen schröpft. Jack hält diese Mitteilungen für veraltete stenagografische Daten, die eine Mitteilung im Rauschen einer anderen verbergen. Oder hat er eine intakte Version der Poetikmaschine SARA entdeckt?
Ich werde entmaterialisiert und nehme den Weg über die Blutbahnen des Internets in die 5. Novelle, und eigentlich möchte ich es lieber 5. Kapitel nennen, weil die Figuren in Weigonis Werken herumspazieren, als befänden sie sich alle in demselben Buch, bzw. in ein- und derselben Stadt. (So gesehen ist Zombies, der Vorgänger von Cyberspasz eine optimale, wenn auch optionale, auf jeden Fall aber opiumhaltige Einführung, destilliert aus Vignetten, und es scheint unwahrscheinlich, dass Weigoni nicht bereits an einem Folgeband schreibt.) Alle Brücken münden in Kitsch und Unverdaulichem. Man darf auf ihnen keine Autopanne haben ... Ich erinnere mich daran, wie Ulli aus der Werbeagentur bereits 1998 meinte: „Wenn du heute ernsthaft mit deiner Kunst bekannt werden willst, musst du mindestens mit einem Flugzeug in ein Hochhaus brettern.“ In Mc. Guffin wird das Kunstverständnis der heutigen Zeit geröntgt. Eine Kneipe, in der sich die Kunstszene trifft, ein Hacker, der Daten aus dem Internet klaut, wie Bilder aus einem Museum, ein Vampir, der die Künstlerin liebt, ein Kommissar, der die Gesellschaft analysiert, eine Gesellschaft, die zu modern ist, um echt zu sein, eine Echtheit, die belgischen Mönchen vorbehalten bleibt, ein Glaube an die Sehnsucht, ein Leser, der die Daten nicht zu verorten weiß, ein Sound, der die Daten ordnet, ein Biss, der alles Vorherige infrage stellt, ein Bis-hierher-und-nicht-Weiter, ein Vorschlag, die Novelle von Art Jones inszenieren zu lassen ... Was bringt Profit? Wer ist Profi? Wer hat Profil? Was weiß Pozozza? Wie es hier rausgeht? Nein, ein Entkommen ist nicht möglich, als ich begriffen habe, dass ich auch in dieser Stadt wohne.
Kann man sich in der 2. Novelle – Der große Wurf – erholen, weil sie so ›normal‹ist? Es geht hier um Frauen, Geld und schnelle Autos bzw. den Glauben daran, und ich muss an eine australische Eingeborenensprache denken, in der es eine sprachliche Kategorie für ›Frauen, Feuer und gefährliche Dinge‹gibt. Der Taxifahrer heißt hier Fridolin Fleppe. Seine Geschichte ist eine Legende ... Ich seh ihn, stilisiert, als Titelbild auf einem blanko Notizbuch, welches man im Museum für Anthropologie erwerben kann. Er gerät durch verdrehte Umstände an eine Lieferung Kokain und will diese dann mit Automechaniker Justaff und der Prostituierten Anouk an einen Killer verticken, um mit dem Geld neu anzufangen, was ihnen, nach ein paar Todesfällen, auch gelingt. Die Morde in der Geschichte sind folgerichtig und erfunden, folgenschwer und hyperreal. Ein Hauch des Traums schwebt über ihnen, wie der Smog über der Straße, auf der sie verschwinden.
Kopfkino, ein WortVideo für eingeweihte Ohryeure. Angeblich existiert eine unvollendete Fassung des allerersten Filmes von Orson Welles. George Kaplan wird auf eine merkwürdige Recherche geschickt. Reflexionen über das Verhältnis Film – Realität – Kopfraum – Weltende. Kann verhindert werden, dass Medienmogul Salzinger eine Fälschung veröffentlicht?
Daseinssorgfalt. Die Autotür des Taxis ist einladend geöffnet. George blickt in die Dunkelheit malerischer Tristesse. Verlockend klingt aus dem Autoradio: „As real as Disneyland“ von Julian Dawson. Als er diese Musik hört, nimmt er einzelne Noten nicht wahr. George erinnert sich, wie die amerikanische Touristen mit den Fingern an die Fassade von Neuschwanstein klopften. Sie konnten nicht glauben, dass ein Märchenkönig dieses Gebäude einst wirklich hat errichten lassen; a real virtuality.
Ich brauche diese Stadt nicht zu verlassen – sie hebt ab; die Propeller der unzähligen Klimaanlagen sind die Turbinen einen riesigen Flugzeugs
Wahrheit ist strukturell
(nach der Lektüre von Cyberspasz a real virtuality)
oft genug gerufen heut
Ratten kreuzen meinen Weg und schmeißen! sich, aufquiekend vor Freude, in den Müll am Straßenrand
Das sollten wir vielleicht auch tun
ESC drücken / oder einen Punkt eingeben
Ich habe keine Luft mehr
Kinder erschießen sich täglich
Oder reißen sich die Haare aus
Hier gibts
nur kleine Hunde
Regisseure zerbrechen sich ernsthaft den Kopf
über eine Schicht von 1,5 cm undefinierbarer Flüssigkeit
die hier doch zu genüge herumliegt
In Ermangelung eines grünen ägyptischen Käfers
der Glück bringt
strecke ich die Zunge rausund rufe: Sanctus
Der Kontrolleur hätte das vermutlich nicht verstanden
„Das ist Latein und heißt: Gewinne im Wert von 4 Mio Euro“
erkläre ich ihm
„Haben Sie vielleicht eine Luftpumpe?“
Sein Blick verrät, dass er auf jeden Fall nur einen der beiden Sätzen verstanden hat
und sich jetzt nicht entscheiden kann
welchen
Zu viel, das ist ihm auf jeden Fall zuviel
Er persönlich hätte ja nur eine Idee
auf der er herumreiten kann
Genauso wie nur eine Frau
„Tja, Wahrheit ist strukturell!“ rufe ich
ihm zu und steige aus
(›Rufen‹ist hier übrigens kein Wiederholungsfehler und kann auch als
Satzzeichen aufgefasst werden)
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