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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Helden aus Pappmaché

Andrei Mihailescu hat einen Roman über das Rumänien der achtziger Jahre geschrieben, in der Tradition des sozialistischen Realismus.
Hamburg

Bukarest, Anfang der achtziger Jahre. Der Journalist Stefan Irimescu wird von der Securitate verhaftet und zwei Wochen ohne Anklage verhört und gefoltert. Vordergründig geht es um die Unterschlagung von kritischen Leserbriefen. Irimescu wollte durch das Zurückhalten der Briefe verhindern, dass deren Verfasser ins Blickfeld des Geheimdienstes geraten. Denn natürlich wurde jeder Brief, bevor er von der Redaktion gelesen werden konnte, von einem Securitate-Mann geöffnet und sein Inhalt studiert.

Die Unterschlagung der Briefe ist aber nur Anlass, nicht Grund der Verhaftung. Grund ist, wie könnte es anders sein in einer Diktatur, dass sich einer nicht an die Regeln hält: Irimescu will sich nicht anpassen, er will nicht unterwürfig sein und den kleinen und großen Mächtigen in diesem System zu Kreuze kriechen. Wegen eines Artikels, in dem er angeblich die Errungenschaften des Sozialismus in den Dreck gezogen hat, soll er Selbstkritik üben, vor den Parteigenossen, den Securitate-Mitarbeitern. Sein Chef stellt es als kleine Sache dar, schnell erledigt, danach sitze er wieder fest im Sattel. Aber Irimescu weiß: Einmal erpresst, immer wieder erpressbar. Er weigert sich – und wird auf dem Heimweg verhaftet.

Irimescu ist die eine Hauptfigur des Romans, er ist der „Mann im Mittelfeld“. Die andere ist Raluca Stancu, eine Architektin, die mit einem Parteikader, einem kommenden Mann des Systems, verheiratet ist. Sie lebt in einer Welt voller Privilegien, mit großem Haus, eigenem Auto samt Chauffeur, ohne Lebensmittelrationierung, Schlangestehen, Stromsperren, Heizungsausfall. Durch Zufall begegnet sie Irimescu, als dieser, nach 14 Tagen Securitate-Haft, nach Hause wankt. Er will auf einer Baustelle Wasser trinken, gerät dort in eine Untersuchung wegen Unterschlagung von Baumaterial, wird von den Arbeitern als passender Sündenbock nochmals zusammengeschlagen – und dann, gegen alle Vernunft, entscheidet sich Raluca Stancu, diesen stinkenden, blutenden, stöhnenden Unbekannten zu retten.

Sie bringt ihn ins Krankenhaus, besucht ihn. Er erzählt ihr seine Geschichte. Sie verlieben sich ineinander. Oder vielleicht hatten sie sich schon auf der Baustelle, bei ihrer ersten Begegnung, ineinander verliebt? Eine amour fou also? Denn warum sonst hätte sie ihm helfen, dieses Risiko einem Unbekannten gegenüber eingehen sollen? Jemand in einer Position wie der ihren nimmt normalerweise Menschen, die in Not sind, nicht wahr. Er schaut nur auf das, was ihm nützt, blendet alles andere aus. Auch Raluca Stancu hat bisher so gelebt. Durch Irimescu lernt sie die Welt der normalen, nicht privilegierten Bukarester kennen. Staunt darüber, wie sie leben – in winzigen, ungeheizten Wohnungen, in denen nach 22 Uhr der Strom abgeschaltet wird, wo man vor den noch geschlossenen Lebensmittelläden stundenlang ansteht, um etwas außer der Reihe zu ergattern. Man fragt sich, wie sie bis dahin durch Bukarest gekommen ist, ohne den Verfall der Stadt, die deprimierten, abgearbeiteten Menschen wahrzunehmen. Ob sie nie mit ihren Kollegen und Kolleginnen gesprochen hat. Auch über die Securitate weiß sie nichts, stellt sich vor, dass diese vor allem für die Auslandsspionage zuständig ist, nicht für die Bespitzelung und Einschüchterung der eigenen Bevölkerung. Das mag man kaum glauben. Raluca Stancu – eine dea ex machina, die nichts über die Zustände von Himmel und Erde weiß. Aber sie steigt herab. Weil sie sich in einen Normalsterblichen verliebt hat. Und verliert den Schutz ihres Mannes und der Partei. Beide rächen sich – nicht direkt an ihr, sondern an ihrem Geliebten. Irimescu wird wieder verhaftet, gefoltert und zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt.

Der Roman wird aus zwei Perspektiven erzählt, der Irimescus und der Raluca Stancus – immer schön im Wechsel. Ähnlich berechenbar ist die Story, die glatt durcherzählt ist, in einer Sprache, die man „ordentlich“ nennen könnte. Keine Überraschungen, keinerlei Poesie, hier und da eine aus der trockenen, flächigen Erzählung ragende Metapher, das ist alles. Die Eindimensionalität der Charaktere ist erstaunlich. Sie wirken wie Helden des sozialistischen Realismus, die in einen sich als kritischen Bericht über den Ceaucescu-Kommunismus tarnenden Roman geraten sind, ähnlich schlicht, moralisch unanfechtbar, nicht kleinzukriegen. Irimescu agiert, als wäre er ein neuer Pawel Kortschagin, der alle Zweifel niederringt und nie Kampfesmut und Zuversicht verliert. Resignation, Depression, Alkoholismus, Selbstmord, alles wäre verständlich angesichts dessen, was ihm angetan wird, aber das ist was für Schwache, nicht für den „guten Mann im Mittelfeld“. Irimescu gibt auch nicht auf, als Raluca Stancu sich nach seiner Haftentlassung von ihm trennt, nachdem sie eine Zeitlang zusammengelebt und ein gemeinsames Kind bekommen haben. Sie will nicht mehr kämpfen, sondern es sich in der Nische, die sie gefunden und sich eingerichtet hat, so gut es geht bequem machen. Aber Irimescu ist politisiert. Er kann den großen Traum, die Gesellschaft umzustürzen, nicht aufgeben für das private Glück. Nach dem Gefängnisaufenthalt noch weniger als zuvor.

So trennen sie sich. Irimescu lebt für die Gemeinschaft, schart eine Gruppe oppositioneller Schriftsteller und Musiker um sich und besucht seine Tochter alle zwei Wochen in Bukarest. Von Raluca Stancu ist nicht mehr die Rede. Dass die Frauen arbeiten, den Haushalt machen und die Kinder groß ziehen, ist schließlich keine Heldentat. Auch seine Mutter hat es so gemacht, nachdem sein Vater Selbstmord begangen hat. Aber wenn die Mütter in die Berge gingen, Musik machten und schrieben und die Kinder bei den Vätern ließen, was wäre dann? Wären sie dann Heldinnen – oder würden sie belächelt, verflucht oder einfach vergessen, und wieder wären es die Männer, die allen Ruhm ernteten wegen ihres gewaltigen Opfers?

„Guter Mann im Mittelfeld“ ist ein solide erzählter Roman, der anschaulich macht, wie sich eine Diktatur bis in die privaten, innersten Strukturen frisst, Liebe, Vertrauen, Solidarität untergräbt und Vorteilssucht, Machtstreben, Verrat und Egoismus nährt. Die Holzschnittartigkeit seiner Charaktere wie der nüchterne Stil machen die Lektüre zwar leicht, bieten aber nur geringes ästhetisches Vergnügen. Die Rollenklischees sind mitunter kaum zu ertragen. Es ist ein Roman in der wieder so beliebten Manier des Realismus – aber es ist ein Realismus auf Vorabend-Serienniveau, der nicht mit der Realität verwechselt werden sollte.

Andrei Mihailsescu
Guter Mann im Mittelfeld
Nagel & Kimche
2015 · 352 Seiten · 22,90 Euro
ISBN:
978-3-312-00669-4

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