Kritik

Himmelszeichen ohne Botschaft

Angelika Meiers kafkaeske Dystopie unter kalifornischer Sonne
Hamburg

Nicht ohne Grund heißt Angelika Meiers Hauptfigur mit Nachnamen „Osmo“: Im gleichnamigen Roman ist sie eben jener Tropfen, der die reife Kirsche zum Platzen bringt – und verkörpert damit zugleich das erste Beispiel, das Wikipedia zum Phänomen „Osmose“ anführt.

Mary Lynn Osmo ist Anfang vierzig, als sie nach sieben Jahren Haft aus dem kalifornischen Gefängnis-Motel Court Inn entlassen wird. Den Mord, den sie behauptet begangen zu haben, konnte man ihr einfach nicht nachweisen („Kein Körper, kein Fall“). Doch anstatt in die Freiheit, wird sie nun in die Verbannung geschickt. Die reife Kirsche, das ist zum einen die Kleinstadt Blythe, die Mary Lynn mit ihrer naiv-trotzigen Art („traumwandlerisch sicher oder hoffnungslos traumverloren, was ist schon der Unterschied?“) gehörig durcheinanderbringt, zum anderen die marode Solaranlage, auf der sie ihre Reststrafe ableisten soll.

Gleich bei der ersten Einkaufstour erleidet der tattrige Gerichtsdiener einen Herzanfall; fortan sterben die Charaktere links und rechts um sie her wie die Fliegen. Und als wäre das nicht genug, verdreht sie auch noch dem Motelbesitzer/Gefängniskoch Paul Cassidy den Kopf, der Jahre zuvor von seiner prügelnden Frau verlassen wurde. Eine zarte Romanze zwischen zwei vom Leben schwer Gebeutelten bahnt sich an, doch der großväterliche Richter, der vor nichts so große Angst hat wie vor Veränderungen, sucht dies mit allen Mitteln zu verhindern. Da kommt ihm die Verbannung in die Wüste gerade recht. Auf unbestimmte Zeit soll Mary Lynn Nacht für Nacht die unzähligen Spiegel auf der desolaten Sonnenfarm „Solariana“ putzen.

Blythe gibt es tatsächlich – ein osmotischer Durchgangsort an der Grenze zwischen Kalifornien und Arizona – und auch die Solaranlage sollte einst gebaut werden, scheiterte jedoch an den Finanzen. Meier betreibt in ihrem neuen Roman also wieder einmal spekulative Möglichkeitsforschung auf höchstem literarischem Niveau. Das erinnert natürlich auch an ihren grandiosen Vorgänger „Heimlich, heimlich mich vergiss“, eine herrlich skurrile Farce über eine Klinik ohne Ausgang, in der Ärzte und Patienten quasi-schizophrene Einheiten bilden. In sich geschlossene Parallelwelten, in deren Regelkreislauf ein Störelement von außen eindringt, scheinen die Autorin nachhaltig zu faszinieren. So bedient sich auch „Osmo“ so mancher Referenzen auf „Wahnsinn und Gesellschaft“ sowie „Überwachen und Strafen“. Allerdings wirkt der neue Roman trotz evidentem Anspielungsreichtum nicht so verkopft wie sein Vorgänger, dafür verspielter und verzierter: Weniger Focault, mehr Pynchon.

Mit Vorliebe legt Meier falsche Fährten aus, flicht mysteriöse Zeichen in den Text – sich wiederholende Schriftzüge, Buchstabenfolgen, Geoglyphen mit möglicherweise magischen Kräften – deren Bedeutungen sich jedoch nie ganz aufklären lassen. So findet Mary Lynn im Nachtschrank des Richters einen fiktiven deutschen Gedichtband mit dem kryptischen Titel „Ahorun“, aus dem immer wieder zitiert wird. Wie bei Pynchon suggerieren diese metatextuellen Ebenen ein Außen, das in Wahrheit jedoch Teil des unzuverlässigen Wahrnehmungsgebäudes der Protagonisten bleibt. Dass Mary Lynn „indirekt“ Deutsche sei, wird angedeutet – ein flüchtiger Brückenschlag zwischen dem US-amerikanischen Setting und Meiers deutschsprachigem Publikum – und darum ein wenig Deutsch verstünde. „Na ja, reicht doch“, erwidert daraufhin der Richter: „Manchmal versteht man sogar mehr, wenn man nur wenig versteht.“

Stellenweise droht „Osmo“ an seiner überbordenden Fantasie und Figurenfülle zu zerfasern, doch schafft Meier es immer wieder, ihr komplexes Gedankengebilde mit übergreifenden Konzepten zusammenzuhalten. Wirkte die labyrinthische Psychiatrie in „Heimlich, heimlich mich vergiss“  bereits rein architektonisch wie von Kafka erdacht, so müssen wir auch hier nicht auf das kafkaeske Moment verzichten: Jener „Randstrich der Seele“, den Franz Kafka 1917 in einem Oktavheft erwähnte, verläuft hier als sichtbare, anfassbare Linie durch den Garten von Jimmy Two Crow. Er, „Kaliforniens wichtigster indianischer Konsultant“ ist es, der Mary Lynn durch das wüste, heilige Land der indigenen Bevölkerung zu ihrem neuen Bestimmungsort fährt. „Schauen Sie, Sie können in die Seele nicht eindringen, wohl aber gibt es diesen Randstrich, an dem Sie sich mit ihr berühren“, paraphrasiert er Kafka, und Mary Lynn fragt sich, wessen Seele wohl gemeint ist: Ihre? Seine? Oder die der Wüste?

Während der Richter die Ansicht vertritt, dass „es beim Menschen nun mal im Wesentlichen auf die Reste ankommt, auf die hartnäckigen Rückstände in ihm von irgendetwas, das nicht einmal er selbst noch sehen kann“, behauptet Mary Lynn: „Alles, was ist, kann man auch sehen, in irgendeiner Weise jedenfalls, es zeigt sich, und was sich nicht zeigt, gibt es auch nicht“, und spielt damit zugleich auf den schwebenden Ausgang ihres Gerichtsurteils an. Letztendlich bewegt sich „Osmo“ in genau diesem Spannungsfeld zwischen gleißender, alles überstrahlender Helligkeit und den Versuchen, flüchtige Blicke in die dunklen Abgründe der menschlichen Seele zu werfen.

Kann es hierfür eine bessere Metapher geben als eine gigantische Solaranlage?

Die Veteranen eines unbenannten Krieges, die Mary Lynn auf Solariana antrifft, wirken zunächst wie skurriles Dekor. Allen voran Doc Ibold, der dazu bestimmt ist, den übrigen Invaliden Atteste auszustellen, allerdings selbst an grässlichen Anfällen leidet, die nur mit den härtesten Giften zu lindern sind. Womit sich wieder einmal in schöner Regelmäßigkeit das Arzt-Patienten-Verhältnis umkehrt, und man sich schon mal fragen kann, ob überhaupt noch irgendwo zurechnungsfähige Instanzen aufzutreiben sind.

Die Bilder jedenfalls, die in der Kantine über den Fernsehbildschirm flimmern, legen nahe, dass Solariana von nichts als Brachland und Zerstörung umgeben ist. Von „Heimkehrern“ und Wiederaufbau ist die Rede; L.A. scheint in Schutt und Asche zu liegen. Im besten Fall lässt sich Solariana als eine Art Ferienlager denken, im schlechtesten als langsam sinkendes Schiff. Alles verläuft zirkulär und scheinbar ohne Ausweg: Mary Lynn und ihre Kollegen trinken literweise Zitronengraslimonade und essen das von Paul Cassidy aus Blythe gelieferte Essen, Tag für Tag. Punktiert wird ihre Routine höchstens durch den ein oder anderen Vogel, der den glühend heißen Spiegeln zu nahe kommt, „von ihnen entflammt wird und dann wie ein brennender Pfeil durch das mitleidlos klare Blau schießt“. Unweigerlich denkt man an Phönix aus der Asche. Oder auch: „Himmelszeichen ohne Botschaft, Miss Osmo, unlesbar.“ Einen Ausgang bietet augenscheinlich nur der Tod. Mehr und mehr Spiegel quittieren unmerklich ihren Dienst, und auch die Veteranen treten einer nach dem anderen den Weg alles Irdischen an.

Irgendwann beginnt Mary Lynn sich zu fragen, ob der „Randstrich der Seele“ tatsächlich in Jimmy Two Crows Garten liegen kann. Oder doch eher zufällig überall da, wo eine derart „schöne Leiche“ wie Doc Ibold begraben liegt: „Dann aber wäre dieser Randstrich der Seele freilich keineswegs ein sauberer Breitenkreis um die Erde herum, sondern eine vollkommen krude Linie, und die Bewegung auf ihr ein haltloses Geschlinger von Punkt zu Punkt, die Zick-Zack-Fahrt eines gütig betrunkenen Busfahrers, der jede arme Seele an jeder noch so miesen Ecke aufliest und daher seine Runde niemals zu Ende bringt.“ Das ist nicht nur ein schönes Beispiel für Meiers so philosophisch fundierte wie sinnliche Sprachkunst, sondern geht letztendlich auch wieder d’accord mit Kafka: Das Herz der Finsternis im Innern des Menschen zu suchen, ist vermutlich vergeblich.

Angelika Meier
Osmo
Diaphanes
2016 · 272 Seiten · 22,95 Euro
ISBN:
978-3-03734-896-3

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