Kalter Krieg in der Villa Kunterbunt
Bei IKEA gibt es ein Sofa, auf das alle zwei Sekunden ein Gewicht runterkracht. Wenn es dieser Belastungsprobe tagelang standhält, bekomme es ein Gütesiegel verpasst. „Das Sofa war äußerst stabil, war wie dafür gemacht, dass Kinder auf ihm rumhüpften, dass man mehrmals achtlos damit umziehen und alle möglichen Orgien darauf veranstalten konnte, ohne dass es sichtbar schaden nahm“, schwärmt Sandra, die Ich-Erzählerin in Anke Stellings neuem Roman „Bodentiefe Fenster“. Und fügt lakonisch an: „Das will ich auch gerne alles wieder bieten.“
Sandra lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in einem generationenübergreifenden Gemeinschaftshaus in Prenzlauer Berg. Sie ist 40, freiberuflich tätig und berühmt für ihre Zimtwecken. Und sie hatte gerade einen Nervenzusammenbruch. So zumindest lautet die Diagnose des Arztes aus dem ersten Stock. Ihr wird Schonung verordnet; doch untätiges Rumliegen ist für Sandra die ultimative Qual. Noch mehr als sonst ist sie dazu verdammt, sich selbst und andere zu beobachten. Zu vergleichen, zu analysieren, zu therapieren.
Selbst zu Beginn des Buches, als alles noch in Ordnung scheint, kann sie gar nicht anders. Misstrauisch beäugt sie die bröckelnde Ehe ihrer Studienfreundin Isa, deren Angetrauter an Heiligabend eine SMS aus dem Nebenzimmer schickt, um mitzuteilen, er könne leider nicht an der Bescherung teilnehmen. Kritisch beurteilt sie auch ihre Schwester Wiebke, eine „ewig diskutierende Angstmutter“, die es nicht einmal schafft, eine Zweijährige dazu zu bringen, sich im Winter dicke Socken anzuziehen. Ständig redet Wiebke über ihre Kinder und deren Krankheiten, erfindet diese sogar, vermutet Sandra, und attestiert ihrer Schwester prompt ein Münchhausen-by-proxy-Syndrom.
Sich selbst bezeichnet Sandra als besserwisserische Spielverderberin, womit sie ziemlich richtig liegt. Genau dieses Selbstgerechte nervt mitunter an all dem Geplauder über Apfelkuchen, Ohrenausfluss und Altglas im Treppenhaus. Und auch die minutiöse Wiedergabe einer Plenumsdiskussion über die Benutzung des Baumhauses im Gemeinschaftsgarten ist keine reine Lesefreude. Dafür aber ziemlich authentisch.
Zum Glück durchbricht den selbstreferenziellen „Mutti-Sprech“ ab und an ein drastisches Sprachbild wie das des dringlichen Wunsches, doch bitte bald wieder ein malträtiertes Sofa sein zu dürfen. Oder ein zynischer Kommentare wie dieser:
„Im Vergleich zu Isa geht es mir prima, im Vergleich zu ihren Kindern haben meine hier den Himmel auf Erden, im Vergleich zu den Kindersoldaten im Kongo geht es allerdings auch Isas Kindern relativ gut.“
Ein derart destruktives Brodeln, das dann und wann hervorbricht, verrät bereits, dass etwas ziemlich faul ist in der Villa Kunterbunt.
Man fragt sich, wie lange das „Anderen-geht-es-noch-viel-schlechter“-Mantra Sandra durch ihre so aufreibenden wie eintönigen Tage zwischen Kita, Büro, Herd, Streitgesprächen und Schlaflosigkeit tragen wird. Bei ihr und Hendrik sieht es schließlich auch nicht besser aus: Abends sitzen sie zwar zusammen in der Wohnküche, starren jedoch in getrennte Bildschirme, während Sandra darauf wartet, dass der Hefeteig für ihre Zimtwecken geht, die sie traditionell zu den Geburtstagen ihrer Kinderladenfreundin Tinka backt.
Und über allem schwebt der Alptraum, der eigenen Mutter immer ähnlicher zu werden. Stellings schonungslose Auseinandersetzung mit der Elterngeneration ist der eigentliche Gewinn des Buches, der es abhebt von anderen Supermütter-Lamenti.
Tinka, Isa, Sandra und Wiebke sind gefangen im Teufelskreis der Perfektion. Schon ihre Mütter wollten schließlich alles besser machen. Sie waren die Botschafterinnen des Friedens, brachten ihren Kindern bei, alles auszudiskutieren, richtig streiten zu lernen und die eigene Meinung zu vertreten. Doch die „Gemeinsam sind wir stark“-Parolen sind für Sandra nur noch gespenstische Fetzen aus zu oft gehörten, längst als scheinheilig entlarvten Kinderliedern.
Sandras Mutter starb an Krebs, Tinkas Mutter nimmt seit zwanzig Jahren Psychopharmaka. Als Fantasieblase lebt die Gemeinschaftsutopie in Sandras Hausprojekt weiter. Tatsächlich jedoch bleiben die Kleinfamilien am Wochenende, wenn gerade kein Publikum von außen zusieht, lieber unter sich. Einfach, um die eigenen Nerven zu schonen. Mehr und mehr beginnt Sandra daran zu zweifeln, ob sie ihren eigenen Traum lebt, oder doch eher den ihrer verstorbenen Mutter. Tut eigentlich noch irgendwer, worauf er oder sie Lust hat? Oder sind „alles Faktoren im großen vergleichenden Punktesystem“?
Die Plena dienen mehr der eigenen Profilierung als einer Entscheidungsfindung; auf Parties geht es in erster Linie darum, die Kinder vorzuführen. Und alles, was die Kinder richtig oder falsch machen, fällt letztendlich auf einen selbst zurück. Sollte das die letzte Lehre sein, die ihre Mütter hinterließen. „Aussteigen. Das System nicht weiter stützen“, wird Sandras neues Mantra. Aber es bezieht sich immer nur auf andere: Isa, Wiebke, Tinka. Aus dem eigenen krankmachenden System bricht Sandra nicht aus, sondern verstrickt sich immer tiefer in Wahnvorstellungen.
Mütter denken sich Horrorszenarien aus, damit sie nicht eintreten, heißt es an einer Stelle. Sandra treibt diese Manie auf die Spitze. Imaginiert, wie ihr Sohn in der Badewanne ertrinkt, wie Wiebke ihre Kinder auf eine ähnliche Weise umbringt wie damals ihre Tante die beiden Cousinen. Gegen Ende wird es schwer, zwischen Realität und Wahn zu unterscheiden. Dieses Abdriften ins Unheimliche tut dem ansonsten ziemlich straight erzählten Roman durchaus gut. Doch bleibt die Botschaft halbherzig. Wie schwer es ist, eine Entscheidung zu bereuen, die nicht rückgängig zu machen ist, wird lediglich angedeutet, aber nicht weiter gedacht:
„Und wohin mit den Menschen, die man selbst in die Welt gesetzt hat, falls man im Verlauf des Lebens noch einmal von A nach B wechseln will?“
Vielleicht hat Sandra auch einfach keinen Plan, was sie mit einem Leben anfangen würde, das sie von morgens bis abends selbst ausfüllen müsste. Über ihre freiberufliche Tätigkeit erfahren wir kaum etwas – außer dass sie, wenn sie die Zeit und Kraft dazu hätte, irgendwelche leichtfüßigen und geistreichen Texte schreiben würde. Tatsächlich aber die Stunden im Büro gerne für ein Schläfchen nutzt, bis sie die Kinder wieder abholen muss. Auch Hendrik, über den behauptet wird, er mache Musik, scheint sich nicht wirklich über diesen Beruf zu definieren. Sondern vielmehr über die Zombie-Serien, die er sich reinzieht, wenn die Kinder endlich schlafen.
Erlahmt die eigene Kreativität, weil die Kinder einem alle Energie abziehen? Oder mussten vielmehr Kinder her, weil es nie andere Ideen gab, die zum sinnstiftenden Zentrum im Leben von Sandra, Hendrik und all den anderen hätten werden können?
Sandra und ihre Altersgenossinnen jedenfalls sind keine Noras, die am Ende aus ihren Puppenheimen ausbrechen. Sie schauen lieber weiter durch ihre bodentiefen Fenster auf die anderen hinab, bei denen es, wenn schon nicht noch viel schlechter, so doch zumindest keinen Deut besser zu laufen hat.
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