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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

(W)holes – Narrative im Bruch

Hamburg

Narrative sind gegenwärtig in aller Munde. Während der Kapitalismus eine absurde Erfolgsgeschichte seiner selbst erzählt, Entdemokratisierung und ökonomischem Mißerfolg, der übrigens darin begründet sein mag, daß dieser Kapitalismus seine Standards ständig unterbietet, zum Trotz, während die Rechte ihre Hysterisierung als Noch-nicht-einmal-Lüge, als die faschistoide Kommunikationsblase erregenden Bullshit 1 erzählt, brauchte auch Europa endlich eine Weise des Sich-Erzählens; und ebenso brauchten dies Demokratisierung, Solidarität, Gerechtigkeit, also all die Ideen, die wichtig, aber als Begriff offenbar machtlos sind.

Dabei ist, wie Müller-Funk, einer der Herausgeber und in der Kulturwissenschaft seit Jahren den Umtriebigsten zuzurechnen, die Paradoxie dieser modernen Ideen, daß sie Brüche erzählen, also nicht nur broken narratives sind, sondern auch dies als breaches narrated. Sie sind der (bei Lyotard: postmoderne) Abgesang auf Holismen, die einer Erzählung folgen, und zwar seit der Romantik. Der „Bruch bezieht sich auf das Öffnen neuer Türen”, nicht allein auf diese Resignation, er ist als „Diskontinuität […] zu einem verlässlichen Phänomen unseres politischen und kulturellen Lebens geworden”, so Müller-Funk … warum Phänomen, das wäre zu fragen, aber in der Tat drückt sich in ihr Lernwille aus; und das moderne Paradigma der Chance.

„Wholes and holes”, so Henrik Skov Nielsen daran anschließend, seien, woraus sich die zu denkende Spannung ergebe, man müsse etwas andenken, das „complete” sein wolle, aber nicht „self-contained” verhindere, es zu werden.

So spannend genau dies wäre, viele der nachfolgenden Texte untersuchen in der Folge Brüche bloß mikrologisch, ohne den Umschlag zu vollziehen, den er und Müller-Funk in ihren Texten fast schon vorgeben; das mag konsequent sein, aber das Buch hat etwas dadurch sehr Disparates. Was nichts gegen die Qualität der Beiträge sagt, Thomas Eders Essay beispielsweise ist blitzgescheit (wie eigentlich alles von ihm), seine Exkurse zu „high-leven mindreading” und „Spiegelneuronen” sind von einer Qualität, die außerordentlich ist, bloß ist die kognitive Narratologie zuletzt zwar als „Bruch […] für die Narratologie” skizziert, der Ansatz „harrt” aber auf irgendeiner Metaebene, wie auch Eder konzediert, „seiner Anwendung auf broken narratives im Sinne dieses Bandes.” Eine wenigstens spekulative Anbindung muß man sich also dazudenken…

Absolut lesenswert ist Arno Böhlers Derrida-Text, um noch einen letzten Beitrag herauszugreifen, worin das Offene als Lebendigkeit des Nicht-nur-Gespeicherten gelesen wird, als Kommen, „pregnancy”, um es mit Henrik Skov Nielsen zu sagen, dessen Thesen hier nebenbei auch nochmals an Kontur und Schärfe gewinnen.

Man tut mit diesem open end, das zugleich dem Band entspricht, Unrecht: Noch vieles findet sich hier. Aber gesagt ist, was potentielle Leser wissen wollen: Hier gibt es reiche Beute für nach Erkenntnis Jagende, in einem Band, der sehr lebendig, vielstimmig, klug und insgesamt gelungen ist. Geduld? – Vonnöten. Aber reich belohnt.

Anna Babka (Hg.) · Marlen Bidwell-Steiner (Hg.) · Wolfgang Müller-Funk (Hg.)
Narrative im Bruch
Theoretische Positionen und Anwendungen
Vienna University Press | V&R
2016 · 274 Seiten · 45,00 Euro
ISBN:
9783847105961

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