Ein Land im Abgrund
„Ich will meinen Kopf behalten, ich kann diesen Narrentanz keine fünf Minuten aushalten, und zuletzt wird man doch gefangen. Dagegen kommst du nicht auf”, sagt Füllgrabe. Mit sechs anderen ist er aus dem Konzentrationslager Westhofen geflohen, jetzt irrt er durch Mainz. Wallau Beutler und Pelzer sind schon wieder geschnappt worden, Belloni ist in einen Hotelhof gestürzt. Aber Füllgrabe hält es nicht aus, gehetzt zu werden, er gibt auf, er stellt sich freiwillig.
Georg nicht. Georg Heisler will überleben, er will seine Würde nicht aufgeben und nicht seine Freiheit. Versteckt sich in einem Schuppen, lässt sich von einem jüdischen Arzt die Hand verbinden, lässt sich über Nachte im Mainzer Dom einschließen. Geht zu seiner alten Freundin, die ihn verleugnet. Traut sich zu einem alten Freund, Paul Röder, der ihn bei sich aufnimmt, trotz der Lebensgefahr für ihn und seine Frau Liesel. Röder geht sogar zu einem gemeinsamen Freund, einem Architekten: „Ich soll Sie grüßen von einem gemeinsamen Freund. Ob Sie sich noch an ihn erinnern? Er hat damals die schöne Paddelbootpartie auf der Nidda mit Ihnen gemacht.” Aber der hat Angst, in eine Falle zu tappen, provoziert zu werden. Er tut so, als kenne er ihn nicht. Und denkt: „Hab ich mich richtig gehalten? Was wird er über mich melden? Ruhig, ich bin sicher nicht der Einzige. Fühlen vielleicht heute ein paar Dutzend verdächtiger Leute auf den Zahn.” Aber dann denkt er doch: „Wie, wenn es ernst war, wenn es kein Dreh von der Gestapo war? Wenn ihn wirklich der Georg geschickt hat!”
Anna Seghers‘ Roman „Das siebte Kreuz” erzählt spannend und realistisch von Georg Heislers Flucht durch Nazi-Deutschland. Von seinen Erlebnissen mit Spitzeln, Blockwarten, Hitlerjungen und Lehrern, von Denunzianten und alten Freunden, die ihn nicht mehr kennen wollen. Von Heislers ständiger Angst, entdeckt, verraten zu werden: Ein Wort zuviel, ein falsches Wort, und sein Gegenüber holt die Polizei oder die SA. Der Roman erzählt aber auch von der Solidarität, die ihm begegnet, von alten Freunden, die zu ihm stehen und ihm eine Fluchtmöglichkeit, eine Überfahrt, einen falschen Pass besorgen, von Zufallsbekanntschaften wie der Kellnerin. Die hat bald gemerkt, dass mit ihm etwas nicht stimmt, sieht sich seine verletzte Hand an, macht eine spöttische Bemerkung über die SS, die in der Wirtsstube sitzt und trinkt. Als er fragt, ob sie nicht einen Platz zum Übernachten für ihn hat, nimmt sie ihn mit nach Hause. Und Heisler denkt beim Abschied am nächsten Morgen: „Mit der hätte ich alles teilen können, mein ganzes Leben, aber ich hab ja kein Leben zu teilen.”
Geschrieben ab 1938 im französischen Exil, erschien das „Das siebte Kreuz” zuerst in Amerika 1942, und im selben Jahr noch einmal in einer illustrierten, stark gekürzten Fassung als Fortsetzungsgeschichte in Zeitungen. Seinen Titel hat es von der Idee des KZ-Kommandanten Fahrenberg, die sieben wiedereingefangenen Flüchtlinge an sieben Bäume zu stellen, deren Krone er kappen und die er mit einem Querbalken versehen ließ, sodass sie wie Kreuze aussahen. Das siebte Kreuz aber blieb leer: Georg Heisler gelang die Flucht.
Die illustrierte Fassung ist jetzt im Aufbau Verlag erschienen, mit den düsteren Zeichnungen von William Sharp, der eigentlich Leon Schleifer hieß, 1900 in Lemberg geboren wurde und als Jude 1933 nach Amerika geflohen war. Mit seinen schiefen Perspektiven, labyrinthisch dunklen Treppenhäusern und der häufigen verschobenen Sicht, manchmal von schräg oben, erinnert es an den deutschen Expressionismus der Stummfilmära. Seine „Helden” sind schief und krumm, gebeugt geht Heisler durch das Leben, mit übergroßen Händen, die seine Verletztheit und seine Verletzlichkeit betonen. Gehetzt sind sie alle, nicht nur der Flüchtling, bedroht von Schatten über ihnen und in ihnen. Nein, es ist kein fröhliches Deutschland, das Anna Seghers beschreibt und William Sharp malt, es ist ein Land im Abgrund.
Natürlich musste die illustrierte, gekürzte Zeitschriftenversion auf viele Einzelheiten des Originals verzichten, auf die scharfen Personenzeichnungen, die ständigen Unterbrechungen, die Figurenfülle in ihren mehr als hundert Episoden auf den gut 400 Seiten, mit denen die Epoche von Seghers atmosphärisch dicht eingefangen wurde. Gut getroffen ist aber auch in der Kurzfassung das Gehetzte, die Atemlosigkeit und die bedrohliche Atmosphäre, die alles überlagernde ständige Angst und das Misstrauen jedes gegen jeden.
Kein Wunder, dass der Roman ausgerechnet in Amerika herauskam und ein Erfolg wurde, denn nach dem Kriegseintritt der USA wollten die US-Behörden die Soldaten aufklären und motivieren, gegen die Nazis zu kämpfen, 1944 kam extra noch eine gekürzte Soldatenausgabe heraus. Und nicht umsonst schließlich verfilmte im selben Jahr der aus Österreich emigrierte Fred Zinneman den Roman mit Spencer Tracy in der Hauptrolle.
Der Aufbau Verlag hat sich die Mühe gemacht, die Textstellen aus dem deutschen Original herauszusuchen, und das ganze Buch mit einem höchst instruktiven Nachwort zu versehen, der Aufschluss über William Sharp und Anna Seghers gibt.
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