Ausschau nach dem schönen Leben
Ein sympathischerer Einstieg ist kaum denkbar: Wenn Anne Dorn ihren zweiten Gedichtband „Jakobsleiter“ mit der im ersten Augenblick ungewöhnlich anmutenden Widmung „allen, die Freude daran haben“ eröffnet, steckt kein Kokettieren mit dem unbekannten Publikum dahinter, vielmehr macht sie damit von Vornherein unmißverständlich klar, daß ihren Gedichten ein kommunikatives Element innewohnt. Die Ansprache an den Leser findet sich nämlich genauso wieder in einer Ansprache an die Dinge und in der Evokation der Erinnerungen. Solche Ansprache ist darauf gerichtet, bei allem Leid und Ungenügen, ein trotziges Dennoch aufzuspüren, das bei ihr die Gestalt eines „Ausschauhalten nach dem schönen Leben“ annimmt.
Anne Dorns große Inspiration ist die eigene Erfahrung und Beobachtung. Die Autorin macht keinen Hehl aus der Zahl ihrer Lebensjahre — die „blöde Alte“ nennt sie sich einmal selbstironisch, doch nicht verbittert, nur melancholisch wegen der verlorenen Dinge, zumeist gefaßt und vor allem eines: dankbar. Wundersam verschmelzen die Vergangenheit, die Gegenwart und die Möglichkeit der Zukunft miteinander. Dafür steht Anne Dorn eine ganze Palette unterschiedlicher Tonlagen zur Verfügung, da wird mal eine schlichte Weise gesummt, mal auf Märchen angespielt oder im Gebet die Hände gehoben, vor allem aber gepriesen. Diese Religiosität kommt aus der Tiefe des Gefühls, und weil sie durch literarische Anspielung gefiltert ist, wirkt sie nur wenig aufdringlich und abgedroschen. Es dominiert hier vielmehr das Grundvertrauen in die Dinge. Und sobald Dorn auf diese Weise grundierte Beobachtungen anstimmt, fließen die Gedichte in unaufhaltsamem Sagen.
Margaritenweiß, flockiger Sommerschnee,
wiesenverliebt, waldrandbedacht,
abhangverkettet, muldengedrängt
und vertüpfelt am Weg
in die Stadt —
es könnte bei dieser Auflistung nicht allein von Margariten, sondern von der Autorin selbst die Rede sein, die „am Gängelband des Weges“ oder „entlang der Mauer“ geht, in einen Freiraum der Sprache hinein, die als Ersatz dienen muß für das Gesuchte und nur schwer zu Findende. Transitorische Heimat im Gedicht gelingt jedoch immer bloß kurzzeitig, und so bleiben letztlich, wenn auch wortstark besungen, die Realitäten übermächtig:
Blendend weißer Empfang,
und allüberall im Wege
die unnütz gewordene Liebe
zum Anfang. Allüberall seither
Ausschau gehalten nach einem Wort,
das standhält gleich jener
verloren gegangenen, Lied gewordenen,
mir auf den Lippen erstorbenen
zweisilbigen Festung Heimat.
In ihren besten Gedichten — und in vorliegendem Band sind es nicht wenige — besingt Anne Dorn die Natur, die Jahreszeiten, die Blumen und Vögel, macht den unauffälligen Ort zu einem Kraftzentrum, an dem die Worte mit großem souveränem Schwung getragen werden. Zur raumgreifenden Geste, die über Licht und Schatten streicht, gesellen sich aber auch immer wieder Kleinstbetrachtungen, etwa die Spinne, die „von meinem Haar / bis zu den Wollflusen der Decke / ein Netz zu spannen“ beginnt. Das Bild ist nicht unvertraut, die Intimität der Begegnung dagegen unerhört schlicht und rührend. Es ist die „schöne, wilde Welt“, so ein Gedichttitel, zu der Anne Dorn eine unbezähmte Liebe hegt. Das umfaßt die Menschen, die nahen, Tochter, Sohn, ebenso wie die fernen, im Café, in deren Gespräch sie sich einhaken möchte.
Angesichts der becircenden Fülle dieses Buchs ist man versucht, das Bild vom „Wundergreis“ zu bemühen, doch mit nichts täte man der Autorin größeres Unrecht, denn die Gedichte thematisieren zwar die Unerreichbarkeit des Vergangenen, sind aber meistenteils von einer Frische, die gegenwartgeschöpft und somit zeitlos ist. Zwar weht dann und wann ein Verweis auf biblische Metaphorik über die Gedichte, der aus einer anderen Zeit gefallen scheint und ein wenig müde wirkt, doch in der Gedichtanordnung des Bandes ist das letztlich derart aufgehoben, daß man es mit leichter Wehmut liest und immer spürt, daß hinter allem Gesagten zehnmal mehr Ungesagtes, vielleicht auch Unsagbares, steht. Sofort daneben finden sich wieder kritische Spitzen gegen die Auswüchse der Großstadtwelt, die alle Nostalgie unbarmherzig ins Hier und Heute stoßen, beispielsweise im „Asphalt-Altar“, der das Kultobjekt Auto verspottet.
Der gehobene Ton, mit seinen behutsamen (vermutlich eher zufälligen) Anklängen an Hilde Domin oder Nelly Sachs, entspricht der Haltung, mit der Anne Dorn auf die Dinge zugeht, nobel und sehnsuchtsvoll, und ein Parlando oder verschmitzt eingestreutes Alltagsvokabular verflüchtigt an den richtigen Stellen den aufkeimenden Pathosverdacht. Nur manchmal schleicht sich, verstärkt durch gesperrt geschriebene Worte, ein unangebracht didaktischer Unterton ein, dessen es gar nicht bedarf, um die Botschaft zu verdeutlichen. Man verzeiht das gerne, denn solche Unvollkommenheiten machen das Gedicht authentisch, jenseits aller Erkünsteltheit. Besonders überzeugt Anne Dorn, wenn das Ich souveränes Terrain erreicht, alles getriebene Sagenmüssen dann aufgehoben ist in einer wunderbar sinnlichen Verschmelzung von Erinnerung und Gegenwart. „Jakobsleiter“ reicht insgesamt wohl nicht vollends an ihren Erstling „Wetterleuchten“ heran, enthält aber viele von Dorns allerbesten Arbeiten, deren vitale Sprache lang anhaltende Nachbilder ins Gedächtnis prägt.
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