70 Jahre lang Südafrika
Anne Landsman, in Südafrika geboren, lebt in New York. Mit „The Rowing Lesson“ legte sie vor einigen Jahren ihren zweiten, bereits mehrfach ausgezeichneten Roman vor, der nun in der feinen Übersetzung von Miriam Mandelkow unter dem Titel „Wellenschläge“ erschienen ist.
Betsy, eine vierzigjährige Frau, die ihr erstes Kind erwartet und als Künstlerin in Amerika lebt, fährt nach Südafrika ans Krankenbett ihres Vaters. Nach Komplikationen bei einer Operation liegt er im Koma. Zwischen Arztvisiten und angespannten Gesprächen mit Mutter und Bruder harrt sie hilflos neben dem Sterbenden aus, mit dem kein Gespräch, keine Auseinandersetzung mehr möglich ist. Sein letzter Besuch in New York war ein Desaster. Er missbilligte Betsys Leben, ihren Beruf, die Wahl des Ehemanns und der Wohnung, froh, wieder in seine Heimat Südafrika zurückkehren zu können. Das Buch ist ein Gespräch mit jenem „Du“ des Vaters, das zeitlebens nicht stattfinden hatte können, weil sowohl Nähe als auch Bereitschaft fehlten. Wie ein Ruderer in einem Boot, der beim Vorankommen immer das bereits Durchfahrene im Blick hat, nähert sich Betsy in Rückblenden ihrem Vater, seinem Leben als Kind, Student, Arzt und schließlich alternden Mann, um die Ursache seiner Eigenheiten und ihrer schwierigen Vater-Tochter-Beziehung zu ergründen.
Harold Klein, der Nachkomme jüdischer Einwanderer aus Europa, wächst in Südafrika auf und beschließt mit fünf Jahren Arzt zu werden. Sein Vater ist Gemischtwarenhändler, der in seiner Arbeit aufgeht, die Mutter betreut die drei Kinder. 1938 beginnt Harold in Kapstadt mit dem Medizinstudium. Am 1.9.1938, dem Tag von Hitlers Einmarsch in Polen, stirbt sein Vater an einem Infekt und hinterlässt die Familie mittellos. Ein Onkel übernimmt die Kosten des Studiums, das Harold zügig abschließt, obwohl er lieber als angehender Mediziner nach Europa mitten hinein ins Kriegsgeschehen ziehen würde. 43 Jahre lang arbeitet er als Landarzt im Kapweinland, von seinen Patienten respektvoll „Dokter God“ genannt. Er heiratet Stella, eine Tochter aus gutem Haus, deren Brüder ebenfalls Ärzte werden, sie bekommen zwei Kinder: Simon und seine jüngere Schwester Betsy.
Der Roman ist routiniert geschrieben, die zahlreichen Einsprengsel in Afrikaans verleihen dem Geschehen Authentizität. Es ist keine heile Welt, die Anne Landsman entwickelt, sondern eine der kleinen und großen Enttäuschungen, harter Arbeit und Anstrengung, die Spuren hinterlassen. Harold wird als laut, aufbrausend und herrschsüchtig gezeichnet, er flucht und schimpft nicht nur unter Alkoholeinfluss mit seiner Familie, bedroht Betsy in einer eindrücklichen Szene mit dem Umbringen. Aber es ist auch eine Welt der zarten, leisen Töne, wenn gleich im ersten Kapitel der Fluss Touw beschrieben wird, die Fahrt mit dem Ruderboot nach Ebb’n Flow, der Flussquelle, und etwas wie Glück, das Harold dabei empfindet, ein Glück, das er mit niemandem teilen kann, nicht mit Stella, die Nichtschwimmerin ist, und nicht mit seinen Kindern, die ihn zwar wiederholt begleiten, denen er das Rudern, nicht aber die Einzigartigkeit seines Flusses beibringen kann. Immer wieder kehrt Harold allein nach seinem Sehnsuchtsort Ebb’n Flow zurück, registriert die Zerstörung seines Paradieses, missbilligend und voll Ohnmacht.
Unaufdringlich webt Anne Landsman das Weltgeschehen in die Romanhandlung ein. Harold ist Jude, Freimaurer und unpolitisch. In Rückblenden erfährt man von den Verwerfungen zur Zeit seines Studiums, liest wie nebenbei über Braunhemden und die Empfänglichkeit weißer Menschen in Südafrika für die nationalsozialistische Ideologie, die Harold wohl registriert, die ihn jedoch unbeeindruckt seinen Weg des sozialen Aufstiegs gehen lässt. Mit dem Ende des 2. Weltkriegs endet die Assistentenzeit Harolds im Spital. Auch die Rassentrennung wird als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft Südafrikas beschrieben und von Harold nicht hinterfragt, obwohl schon im Seziersaal vorwiegend schwarze Leichen zu finden sind und er viele Schwarze behandelt. Der Roman findet schließlich mit dem Tod Harolds am 7.5.1997 sein Ende, 52 Jahre nach der Kapitulation Deutschlands, wenige Jahre nach dem offiziellen Ende der Apartheid.
Das Buch bietet ein reichhaltiges Panorama Südafrikas über 70 Jahre und überzeugt durch die Genauigkeit und Intensität der Sprache. Was den Lektüregenuss allerdings trübt, sind die medizinischen Fachausdrücke, die das gesamte Werk durchziehen, vor allem eine Unzahl anatomischer Bezeichnungen, als ob Anne Landsman einen Anatomieatlas zu Rate gezogen und sich daraus im Übermaß bedient hätte. Im Anhang dankt die Autorin, selbst Tochter eines Arztes, auch zahlreichen ÄrztInnen, die den Roman auf fachliche Richtigkeit geprüft haben. Doch der Sinn jener Fachworte erschließt sich nicht, denn Betsy ist keine Ärztin, die aus Eigenem schöpft und ihr Wissen ausbreitet. So finden sich immer wieder Beschreibungen, die wie Stolpersteine einer genussvollen Lektüre im Weg liegen. Und in wenigen Sequenzen stellte sich auch die Frage nach der Erzählhaltung. Als Tochter eines wenig kommunizierenden Vaters kann Betsy manche Episoden aus seinem Leben, zum Beispiel einen Bordellbesuch, nicht kennen. Mit einem auktorialen Erzähler hätte sich diese Klippe leicht umschiffen lassen.
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