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Kritik

Sexuelle Befreiung als Unglück

Anne Lise Marstrand-Jørgensen beschreibt in „Das indiskrete Leben der Alice Horn“ den Zerfall einer Familie.
Hamburg

„Hvad man ikke ved – Was du nicht weißt“ heißt der Roman in der dänischen Originalausgabe und dieser Titel scheint mir besser zu der Geschichte zu passen. Nicht nur weil Alice Horn schon im ersten Drittel des Romans stirbt, sondern auch, weil an der Indiskretion von Alice hauptsächlich ihr Mann Eric schuld ist und größte Teil des Romans davon handelt, dass die übrigen Familienmitglieder nichts voneinander wissen. 
In einer komplexen Erzählstruktur mit vielen Rückblicken stellt die Autorin eine Familie dar, deren fragiles Gleichgewicht in den Siebziger Jahren aus den Fugen gerät, weil Eric für sich die sexuelle Revolution entdeckt hat.
1969, als die Handlung einsetzt, wohnen die Horns mit ihren drei Kindern seit zehn Jahren in einer Neubausiedlung in einem ruhigen Vorort. Doch schon auf den ersten Seiten wird deutlich, dass Alice aus irgendeinem Grund unglücklich ist.

Sie versuchte, das Glück festzuhalten, aber es flatterte ihr ständig davon, verfolgt von einer Unruhe, die immer größer wurde, bis sie sich nicht mehr beherrschen konnte und ihren Kopf so heftig auf die Tischplatte in der Küche fallen ließ, dass der Tisch wackelte und das Blumenglas fast umgefallen wäre.

Auch Eric hat seine Probleme als Familienvater. Er ist stolz darauf, mit 36 Jahren jünger auszusehen als er ist, nimmt in Stadt, in der er arbeitet, Kontakt zu einem alten Studienfreund auf, der in der Kommune „Paradies“ wohnt und sich in der Künstlerszene bewegt. Plötzlich hat Eric Probleme mit seinem bürgerlichen Leben in der Vorortsiedlung, wirft Alice vor, altmodisch zu sein, nicht an den neuen Bewegungen und Gedanken teilzunehmen. Er selbst beteiligt sich allerdings auch nicht an Kundgebungen gegen den Vietnamkrieg und bleibt bei Protesten ein Zuschauer, aber er begeistert sich für die sexuelle Befreiung und versucht Alice zu überzeugen, dass der Mensch nicht monogam sei.

Es solle ein gemeinsames Projekt sein, sagte er, nichts was er allein durchziehen wolle, es ginge nicht um Normen, sondern um sie und ihn und um ihr gemeinsames Leben, von dem sie geglaubt hatte, sie würde es kennen und verstehen. 

Er hat die seltsame Vorstellung, sexuelle Befreiung könne in einem Swinger Club stattfinden und überredet Alice, mit ihm zusammen ein solches Etablissement zu besuchen. Weil sie alles tun möchte, um ihre Ehe zu retten, willigt Alice ein und trifft sich auch auf Erics Wunsch hin mit verschiedenen Liebhabern. Dabei

bewegte sie sich durch ihre Tage, wie sie es immer tat, dem Anschein nach unbeschwert, in Wahrheit verzweifelt.

Schließlich hält sie dieses Leben nicht mehr aus und ertränkt sich im Fluss.

In den nächsten zwei Dritteln des Romans beschreibt Anne Lise Marstrand-Jørgensen detailliert, welche Folgen das Verhalten der Eltern für die Kinder hat. Obwohl sich Eric bemüht, ist er für seine Kinder nur bedingt eine Hilfe. Er ist immer noch auf dem Selbstfindungstrip, hat ein Verhältnis mit der jungen Rachel, die in der Kommune wohnt und ein Kind von ihm bekommt, was er allerdings erst später erfährt. Er nimmt LSD und fährt am Ende des Romans nach Indien, möchte aus „seiner Blase voller Lügen und Heuchelei ausbrechen“ und macht sich im selben Augenblick schon wieder etwas vor. Da die Kinder nämlich nicht von der Indienfahrt begeistert sind, beschwichtigt er sich damit,

Kinder seien am glücklichsten, wenn sie glückliche Eltern hätten. … Ein halbes Jahr könnte er durchaus fortbleiben. Seine Kinder waren eigenständig und klug, sie würden einander vermissen, aber die Sehnsucht bestätigt die Liebe, und das war nicht das Schlechteste.   

Tatsächlich geht es den Kindern nicht besonders gut. Marie-Louise, eine junge und glückliche, bodenständigere Ausgabe von Alice, wird mit siebzehn Jahren von ihrem Schulleiter schwanger und lebt am Ende des Romans mit dem Baby allein in einer Wohnung. Eric möchte nicht, dass das Baby bei ihm wohnt: er wollte nicht Großvater werden, dafür war er noch nicht alt genug.  

Martin, der Jüngste kommt mit dem Verlust der Mutter am wenigsten zurecht. Der introvertierte Junge ist ständig in Prügeleien verwickelt, fliegt schließlich von der Schule, so dass Eric sich entschließt, ihn nach Indien mitzunehmen.
Einzig Flora, die fünfzehnjährige Tochter, ist stark genug, letzten Endes ihren Weg zu gehen, obwohl auch sie

ihre Mutter so schrecklich und so lange vermisst, dass sie es in der Mitte gespalten hatte und sie anschließend schief und vernarbt wieder zusammengewachsen war.

Sie besucht eine Summerhill ähnliche Schule, kommt durch eine Mitschülerin in Kontakt mit einer Frauengruppe, bei der sich ebenfalls alles um sexuelle Befreiung dreht - diesmal aus feministischer Sicht. Aber Flora gelingt es, sich Abstand von ihrer Familie zu verschaffen, von ihrer Schule und von den ganzen komplizierten Verhältnissen. Sie zieht in eine Wohngemeinschaft in einer großen Stadt, wo sie die Oberstufe besuchen wird.

Das ist der Ort, an dem ich lebe, dachte Flora, genau hier wird alles geschehen.

Der Roman hat – und das ist als Lob gemeint – bei mir eine gewisse Traurigkeit hinterlassen. Denn Anne Lise Marstrand-Jørgensen gelingt es anschaulich und oft auch sehr poetisch darzustellen, wie diese Familie zerbricht und gleichzeitig oft vergeblich um ihr Glück kämpft. 

Anne Lise Marstrand-Jørgensen
Das indiskrete Leben der Alice Horn
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein
Suhrkamp/Insel
2014 · 671 Seiten · 24,95 Euro
ISBN:
978-3-458-17613-8

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