Die Gestalt des Guten
Mir geht es ein wenig wie einem der Erzähler in Anne Webers neuem Roman „Kirio“; ich finde den ersten Satz nicht, den, mit dem diese Besprechung furios einsetzen könnte. Das liegt ganz und gar nicht daran, dass mir der Roman keinen Spaß gemacht hätte, oder dass ich nichts mit „Kirio“ anfangen könnte. Es ist eher so, dass ich Kirio nicht zu fassen bekomme. Aber wie sollte auch gerade mir als unbedarfter Leserin das gelingen, wenn viel berufenere Erzähler, die nacheinander im Roman auftreten, dieses Kunststück kaum zu Wege gebracht haben.
Kiro, dessen Lebensgeschichte, ziemlich chronologisch, von der Geburt bis zum Ende erzählt wird, scheint eine Art Gefäß zu sein, in die jeder Erzähler seine Fantasien und Vorstellungen legen kann. Er stellt mithin dem Leser die Frage; was sehen wir eigentlich, wenn wir glauben, den anderen zu sehen?
Die Erzählung changiert, das ist kein Wunder bei der Vielzahl und großen Unterschiedlichkeit der Erzähler, die auf- und wieder abtreten. Einmal erscheint die Erzählung wie ein Film, in dem ein Bild herangezoomt und wieder ausgeblendet wird, dann wieder märchenhaft, einmal ist es eine Szene im Gerichtssaal, die das Setting für die Erzählung bildet, ein anderes Mal wird aus der Kneipe oder aus dem Bett heraus von Kiro berichtet. Die Orte von denen aus erzählt wird, sind ebenfalls vielfältig. Und das sind sie nicht zufällig, denn natürlich hat der Ort von dem aus erzählt wird, Einfluss auf die Art, wie erzählt wird.
Manchmal werden die Erzähler, die von Kirio berichten sollen, ausgiebig eingeführt, und sie haben eine Schneemarie oder einen Evergreen, dem sie von ihm erzählen können. Es ist ein großer Spaß mit wie viel Einfallsreichtum und Lust am Erzählen, vielmehr Fabulieren, Weber immer wieder aufwartet.
Was durch die unterschiedlichen Erzählstimmen, Erzählorte und Erzählweisen geschieht, ist eine subversive Unterwanderung der chronologisch erzählten Geschichte. Kirio wird zugeschrieben, was im Grunde die Erzählstimmen selbst praktizieren.
Einer der zahlreichen Erzähler; die Fantasie, das Vorstellungsvermögen, das Gewissen, denn der Eindruck, wer hier sprechen könnte, wer hier versucht, sich selbst auf die Schliche zu kommen, und sich einordnen zu können, wird im Laufe der Seiten immer wieder in Zweifel gezogen, Annahmen werden verunsichert, taucht immer wieder auf, und sucht dabei sich selbst mindestens ebenso sehr wie Kirio.
Wie in jedem Buch geht es auch bei „Kirio“ um die Macht des Erzählens, nur etwas offensichtlicher und gleichzeitig verspielter als üblich.
Anne Webers Roman ist ein mehrdimensionales Buch, dialogisch und in jeder Hinsicht das Gegenteil von festgelegt. Man könnte vielleicht sogar sagen, es zeichnet die Bewegung des Schreibens nach, seine Unbekümmertheit ebenso wie den tiefen Zweifel, und natürlich nicht zuletzt, die Unmöglichkeit, etwas Wahrhaftiges, Feststehendes, Unumstößliches, zu schaffen.
Kirio ist eine Manifestation des Begriffs „Geschichte“, indem hier tatsächlich Schicht auf Schicht gefügt wird. Was dabei entsteht, ist ein Raum für den Zweifel. Ein Dialog mit dem Zweifel, ein Spiel mit dem Widerspruch. Ganz nebenbei, unauffällig hineingewoben in das verspielte Erzählen, stellt Kirio die Frage nach dem Wesen der Kunst, der Rolle von Werk und Betrachter:
„Aber gehört es [das Gesicht von Kirio] nicht auch allen anderen, wenn er es durch die Straßen trägt? Ist es nicht, als würde ein Kunstwerk, ein vor Jahrhunderten geschnitztes Anlitz, statt im Museum zu hängen, durch die Stadt getragen, und jeder könnte es betrachten? Und in sich davontragen, ohne dem Gesicht dabei etwas zu nehmen?“
Tatsächlich gerät Kirio immer wieder über mehrere Seiten aus dem Blickfeld. Der Erzähler, spricht von sich, der Autor des jeweiligen Kapitels ergeht sich in Vermutungen über den nächsten, oder den vorangegangenen Erzähler, bis Kirio sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurück holt, oder vielmehr bis sie sich selbst auf Kirio, als Gegenstand ihrer Erzählung, besinnen.
„Ziehen wir uns kurz zurück in den Cumulonimbus, der sich jetzt ausgeregnet hat.
Atemholen. Nachdenken. Wie kommt ein solcher Mensch zustande? Man nehme einen Klumpen Ton und knete ihn zu einer menschlichen Gestalt. Pflanze ihm ein paar rebellische Haare in die Kopfhaut. Gebe ihm einen Namen. Hauche ihn an? Und schon läuft er los, macht seine ersten, noch tollpatschigen Schritte?“
Es gibt literarische Anspielungen zuhauf, Kirio selbst erinnert nicht zuletzt an Büchners Lenz. Ferner tauchen Proust, Kafka, Lewis Caroll, und die Brüder Grimm, als namentlich genannte, oder leicht zu erkennende Paten, auf. Zu guter Letzt kommt der Tod persönlich zu Wort. Allerdings im Widerstreit mit dem Schöpfer, zumindest dem Schöpfer dieses Geschöpfes mit Namen „Kirio“, wobei, wenig verwunderlich, der Tod eine finale Version erzählt, während die des Schöpfers, dem Leben zugewandt ist, und im übrigen vieles offen lässt. Da bringt auch die Anrufung der „Wirklichkeit“ keine endgültige Klarheit:
„Wie war es also in Wirklichkeit? Ich erwäge kurz, als letzte Erzählerin die Wirklichkeit zu befragen, doch wird mir schnell klar, dass sie die Einzige unter meinen zahlreichen Bekannten ist, die über keinerlei Sprache verfügt.“
Im Grunde oder sollte ich besser schreiben: unter anderem?, ist „Kirio“ eine philosophische Abhandlung, verpackt in mehrere Geschichten, verpuppt in eine Figur namens Kirio. Es geht mithin um den Wert (vielleicht auch um die Gestalt) des Guten, für Alltag, Kunst und Wissenschaft.
Egal, ob Held oder Spinner, tot oder lebendig. Kirio ist das, was die Welt gerade dringend nötig hat: einen Blick aus vielen unterschiedlichen Perspektiven, ein Held, der nicht querdenkt, sondern gleich die ganze Welt auf den Kopf stellt. Ein Buch wie „Kirio“, in dem erkennbare, bekannte und neue Fäden, zu einem unvergleichlichen Muster verwebt werden, und dabei wie nebenbei spielerisch den Blick öffnen.
Gibt es Kirio überhaupt? Und spielt das eine Rolle?
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