Spätes Debüt
Es gibt Dichter, die früh beginnen und im Laufe ihres Lebens zahllose Bücher veröffentlichen. Und es gibt jene, die sich Zeit lassen – viel Zeit. Zu dieser Kategorie zählt die 1940 in Aschaffenburg geborene Annette Hövelmann. Sie hatte bislang nur in Anthologien und Zeitschriften auf sich aufmerksam gemacht, zuletzt auch in der von Axel Kutsch herausgegebenen „Versnetze“-Reihe. Dass nun ihr spätes Debüt „Nicht für die Luft geboren“ ebenfalls im Verlag Ralf Liebe erscheint, ist kein Zufall: Kutsch hat den Erstling lektoriert und dem Band Geburtshilfe gegeben – und er zeigt damit einmal mehr seine feine Nase für starke Literatur.
Der Band enthält, folgt man den Zeitangaben bei einer Handvoll der Gedichte, Werke aus über dreißig Jahren, eine Spanne von 1981 bis 2013. Es sind gereifte Texte, geschliffene Verse mit einer Themenvielfalt, die von Krieg und Liebe über Leben und Tod, Natur, Vergangenheit, Gegenwart, Zweifel und Selbstzweifel bis zu augenzwinkernden Auseinandersetzungen mit Kafka und Co reicht. Im Grunde also ein Querschnitt durch poetische Dauerbrenner, der seit Jahrtausenden bewährt ist. Interessant werden sie durch die markante, sehr eigenständige Stimme, die den Leser in ihre Welt hineinzieht und ihn mit faszinierenden und hintersinnigen Sprachbildern umgarnt. Apropos Bilder: Wenn Annette Hövelmann von der Natur schreibt, dann erzählt sie sie nicht, sondern zeigt sie. Man steht neben ihr, wenn die Blätter fallen. Oder wenn Kafka bei seinem „letzten Aufenthalt am Meer“ in Graal-Müritz, wo die Autorin zeitweise lebt, in den Sternenhimmel blickt.
Aber keine Sorge: es geht hier nicht um beschauliches Idyll, sondern um das, was dahinter, drunter und drüber brodelt: „Die Erde ist aufgewühlt bis ins Mark. (…) Unsere Frage überholen die Antworten. / Auch der Heuhaufen des Himmels gibt nichts her.“ Über allem schwebt Endlichkeit, aber das Lyrische Ich weigert sich, die Zügel aus der Hand zu geben. Es will weitermachen, will vor allem verstehen. Die alte Frage, was das alles hier eigentlich soll, wird eingebettet in die Kontexte des Unverstandenen und Undurchschaubaren, das man dem Seelenheil zuliebe ausblenden oder dem man sich in die Arme werfen kann:
„Mein Gehirn, der verdeckte Ermittler,
sitzt in der Erinnerung an eine alte Geschichte fest.
Das eingespielte Team Herz-Puls signalisiert Gefahr.
(…)Die Ränder meines Körpers werden zur Verteidigungslinie.“
Diese Gedichte sind Streifzüge, in denen die Zeit ihre Paradoxien auslebt, Meer und Blut werden zu Sinnbildern für den Zustand der Welt und das Ich, das sich in der Nacht verortet, die irgendwo im Ungefähren liegt, wenn die Fixpunkte zerfließen. Selbst in der Stadt überlassen sich die Strukturen dem Zufall: „Am Markt legen sich angereiste / Steine aus der Ferne / quer, / nirgendwo passgleich.“ Und anderswo: „Die geöffnete Tür / erzeugt Unruhe.“
Vielleicht ist es genau diese Unruhe, der Annette Hövelmanns Gedichte entspringen. Eine Unruhe, aus der Verse sprechen, die gehört werden wollen.
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