Leben lesen wir einen Roman
Was tut man als junge Autorin, die gerade eben ihren zweiten Roman veröffentlicht, in dem der Vater der Erzählerin und ihrer Brüder spurlos verschwindet? Die Angst, es könnte ihm, der immer alles mit brachialer Energie anpackt, etwas geschehen sein, geht in diesem Roman um und treibt die Erzählerin zu immer neuen Eskapaden. Der Roman „Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte mich von Radkappen und Stoßstanden zu ernähren“ ist grandios und möglicherweise einer der besten Texte dieser Jahre. Er beweist, dass die deutschsprachige Literatur vital ist und immer noch eine eigene Stimme hat.
Davon kann man sich als junge Autorin wohl nichts kaufen. Die Erleichterung, dass der Roman endlich fertig ist und demnächst erscheinen wird, dürfte wohl alles andere übertünchen. Und außerdem, bei allem Selbstbewusstsein, der Roman muss sich ja erstmal beweisen. Und als seine Verfasserin hat man darauf recht wenig Einfluss.
Gerade in diesem Moment geschieht dem realen Vater der Autorin das, was dem erfundenen Vater des Romans eben nicht zugestoßen ist: Er hat nach einer seiner nächtlichen Fernfahrteskapaden eine Unfall und liegt im Koma auf der Intensivstation.
Da hat sie über den Unfall des Vaters in ihrer fiktiven Welt gefürchtet, und in der realen Welt geschieht er? Schlimmer kann es gar nicht kommen für eine Romanautorin, die sich eine Welt erfunden hat und sich dabei Anleihen bei ihrer realen Realität bedient hat. Das wird jetzt bestraft. Das gefürchtete, imaginierte Unheil holt sie in der Wirklichkeit wieder ein. Kein Bann, sondern seine Anrufung war der Roman, was man niemandem wünschen kann.
Antonia Baum hat einen schmalen autobiografischen Text geschrieben über den Unfall ihres Vaters und ihren Umgang damit. Sie wisse nicht, was sie ohne das Schreiben gemacht hätte. Was den Status des Schreibens ziemlich genau bestimmt, es ist überlebensnotwendig.
Nun kann man an dieser Konstellation einen Ton finden, nicht zuletzt wegen der Geschmacklosigkeit einer jungen Autorin, die auch aus dem Unglück des Vaters noch ein literarisches Ereignis zu machen versucht. Und sei es, um den fiktiven Roman noch mit so etwas wie Authentizität zu umgeben. So als ob sie nachschieben müsste, dass der Roman sich zwar fiktiv nennt, aber doch einen realen Kern hat, mehr noch, authentisch ist. Hier seht, Antonia, ich, ich bins wirklich, und mein Vater, der in meinem Roman lebt, ist wirklich verunglückt.
Das kann man als magisches Handeln, als Beschwörung verstehen – und über weite Strecken ist dieser Text auch vor allem beschwörend. Nämlich dass der Vater wieder aus dem Koma erwachen und wieder gesund werden soll und dass der Plot des Romans kein Unheil über die realen Personen, die vielleicht Pate gestanden haben, bringen möchte.
Text und Leben stehen generell in einem eigentümlichen Verhältnis zueinander, zumal dann, wenn der Text ohne das Leben nichts wäre. Antonia Baum allerdings hat sich, was das angeht, entschieden, Ja, der Text beschwört den Vater, das Schicksal, wen auch immer.
Aber Baum ist es mehr als klar, dass Roman und Leben voneinander essentiell getrennt sind, sie sind verschieden. Wenn solche Homologien auftauchen, so sind sie doch in einem Kennzeichen, das existenziellen Charakter hat, voneinander unterschieden: Der Roman ist zielgerichtet, er transportiert Bedeutung. Das Leben aber mag Handlungs- und Ereignisstränge aufweisen, aber keine Bedeutung. Der Umstand, dass der Vater vielleicht stirbt, bedeutet eigentlich nichts. Wie auch der Tod von anderen bedeutungslos ist. Tod geschieht.
Das aber darf nicht sein. Und obwohl sie sich der existenziellen Kluft zwischen Text und gelebtem Leben bewusst ist, beginnt sie, die Realität wie einen Roman zu lesen. Das heißt, dem, was geschieht, Bedeutung zuzuweisen. Mit dem Bewusstsein, dass das Gegenteil der Fall ist.
Baum geht allerdings noch einen Schritt weiter: Sie weist nämlich entschieden die Frage nach den Vorbildern von Handlung und Figuren des Romans in ihrem Leben zurück. Der Roman ist fiktiv, wie die Geschichten fiktiv sind, die in der Mitte des knapp 140 Seiten langen autobiografischen Textes stehen. Man mag sie als exemplarisch und richtungsweisen einschätzen – aber erfunden sind sie doch, trotz aller Homologien. Die Frage, ob ihre Texte autobiografisch seien, habe sie nicht einmal verstanden, gibt sie in „Tony Soprano stirbt nicht“ zu verstehen.
Womit wir endlich beim großartigen Titel eines höchst intelligenten Textes sind, hinter dem sicherlich ein kluger Kopf steckt. Denn selbstverständlich kann der Vater nicht sterben, Tony Soprano, der fiktive Ziehvater dieser Antonia Baum, stirbt ja eben auch nicht. Väter mit Bedeutung sterben eben nicht – oder sie sterben doch, was die ganze konzeptionelle Aufrüstung ins Leere laufen lässt. Die gebrochene Vaterfigur ist die übermächtige Vaterfigur, die nicht abzuschütteln ist, gerade in solchen Verhältnissen wie bei Soprano zu seinem Fan. Sie habe die ganze Zeit über Tony Soprano geschrieben, als sie den Nachruf des Schauspielers James Gandolfini verfasst habe, gesteht Baum. Auch hier sind Fiktion und Realität untrennbar – das Leben wird wie ein Roman gelesen.
Aber vielleicht ist das Ganze auch nur ein Spiel im Spiel, denn der autobiografische Text spielt souverän mit den Ebenen der Fiktionalität, auch und gerade auf der ersten Ebene des Buches. Denn was erlaubt es anzunehmen, dass dieser Unfall dem wirklichen Vater Baums zugestoßen ist. Wenn alle ihre Geschichten erfunden sind, was ist dann diese Geschichte? Wenn zur Eigenstabilisierung erfundene Geschichten notwendig sind, und wenn das Schreiben existenziell notwendig war. Was erlaubt es dann anzunehmen, dass „Tony Soprano stirbt nicht“ nicht auch nur ein großes Fake ist? Ein autobiografischer Pakt? Man soll sich doch nicht lächerlich machen. Wer kann den denn eingehen und wer kann ihn halten? Diese Geschichte endet im Übrigen tröstlich.
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