Es ist auch getan mit vielen kurzen Texten
Der Wald ist ein totes Korallenriff. Die Angler verzweifeln in ihren Luftschiffen.
Ich mag das Ausgangsbild von Rupprecht Mayers kurzem Text „Rita“. Er ist sehr kurz, und nach dem zitierten poetischen Anfang bekommt jeder Satz eine gewisse Schwere, man spricht ihm eine poetische Haltung zu, eine rasche Verdichtung setzt ein. Die daran geknüpften Erwartungen werden nicht ganz eingelöst, ein wenig bleibt die Ausformung hinter dem zurück, was sich in den ersten zwei Sätzen ankündigt – vor allem, weil das Ende etwas zu allgemein wirkt.
Familie, diese starke (aber oft unhandliche) Wirklichkeit verknüpfen die sieben Gedichte des Zyklus „und nennen es“ mit einem Essenstisch, mit gemeinsamen Mahlzeiten. Das Zeitverstreichen, das Verhaltende und das Verhalten, die Gesten bei Tisch, Details der Hausmannskost an Fingern und Mündern, geschoben und gestülpt in kleine poetische Ausläufer, ziehen einen heran an die fragile, raue Vitalität dieses Mikrokosmos. Simone Scharbert ist ein schönes Einmaleins des Familientischs gelungen, das sich aber nicht ganz entscheiden kann, ob es mit Wiederholungen und Schleifen arbeiten oder das Thema auch ein bisschen ausweiten will.
Ein bisschen zu gewollt wirkt die Art, wie Wiete Lenk ihre Protagonistin Marikke als Störenfried inszeniert, als gelangweilte und an Grausamkeiten interessierte Pubertierende, nur um dann am Ende eine 180°-Grad-Kehrtwendung zu vollziehen, bei der ich die Reifen der Glaubwürdigkeit unangenehm quietschen höre. „erwachsen werden“ ist eine schöne Geschichte, mit guten Motiven, aber nicht gut ausbalanciert.
In bedrückende Schönheit gehüllt und mit dem Mut zum auffliegenden Pathos, hebt sich Dan Ciupureanus Gedicht „roxanas traum“ (von Manuela Klenke aus dem Rumänischen übersetzt) vom Traumgespinst ins Weltall. Eine schöne Bewegung, die uns u.a. einen wunderbaren Schlussakt schenkt:
(In einer Galaxie blühten die Bäume auf. Ein Wurm erklomm eine orange Wachsmauer.)
Hansjürgen Bulkowskis Gedicht über die Nacht ist ein angenehme Fassung, ein guter Rahmen für diese oft beschriebene Kehrseite des Tages und seiner Geschäftigkeit, genau im richtigen Maße poetisch, im richtigen Maße profan.
Johannes Witeks Gedicht über „Die Champagne Supernova der Zwischenmenschlichkeit“, gekleidet in nüchterne Feststellungssätze, ist erfrischend unberufen, schlicht. Ein bisschen einfach macht Witek sich die Sache, fängt aber trotzdem gut das Mühsame ein, das muss man ihm lassen.
der körper kann weich sein, er kann auch fehlen.
„Äolische Akkumulation - #1“ heißt der nächste Text von Erec Schumacher. Akkumulation heißt so viel wie Aufhäufung, Ansammlung, Anmengung. Und in der Tat: Dieser Text ist eine durchgängige Anhäufung – oder eher eine ununterbrochene Entfaltung, bei der jede neue Falte den angefangenen Bezug mit einem unerwarteten Versatzstück vollendet; welches wiederum in die nächste Falte fallen gelassen wird und weich auf den Schwingen der seltsamen Musik landet, die sich aus dem Sinnzusammenhangzwang der nah aneinandergestellten Behauptungen ergibt.
Sehr reizvoll, einen Text so zu schreiben, als sei er ein Zurückspulen der Zeit. Alke Stachlers Ansatz hält, was er verspricht: ein dichter, kurzer Prosatext, der die Schlaufen des Daseins aus dem Leben zurückzieht, und alles, was daran haftete, gleitet zu Boden. Ihre zweite Prosaminiatur ist weniger virtuos, hat aber dieselbe drängende, bezwingende Sprache.
Mit sehr präzisen, etwas verschraubten Beobachtungsansätzen legt sich Dirk Uwe Hansens Gedicht als Schablone auf das Meeresmuseum in Stralsund, bis wir nur noch die herunterhängenden Tierskelette sehen, das fehlende Wasser, das fehlende Land. Das Leben entstand im Wasser und endet in der Vitrine, in Ausstellungsräumen.
„am Abend ist Maidan ein lautes Wort“ – Maidan ist einer der zentralen Plätze in Kiew, auf dem am 20. Februar 2014 an die hundert friedliche Pro-Europa Demonstranten den Tod durch Schützen unbekannter Zugehörigkeit fanden. Polizei, Armee, Privatpersonen? Niemand weiß es genau. In Anna-Kirstine Linkes kurzem, verwobenem Textauszug wird das andauernde Trauma dieses Tages gut eingeblendet, aufgefangen.
das war eine zukunft, die es so nicht mehr gibt.
die hochhäuser am hanns-seidel-platz künden
von einem konsens aus beton,
der damals so was wie eine vision war.
Das Gedicht „neuperlach“ von Gerald Fiebig wartet mit einigen gelungenen Stichproben zum Stadtbild und darin rasch heranwachsenden Assoziationen und Reflexionen auf. Immer leicht dabei, doch nie wirklich aufgetragen: ein elegischer Ton – der in den Endpassagen einige kleine, hymnische Trompetenstöße abgeben darf.
Leider kann ich Fitzgerald Kusz‘ wunderbare Übertragung von Shakespeares 18tem Sonett ins Mittelfränkische nicht besprechen, da sich mir, auch nach diversen Google-Versuchen, das Vokabular nicht ganz erschließt. Eigenwillig schön sieht‘s aber aus, und sogar, wenn man‘s ahnungslos liest, klingt‘s gut.
Jörg Neugebauers Gedichte erscheinen mir, selbst wenn ich wohlwollende Sympathie in mir aufkochen lasse, ein wenig banal. Ein verschwundener Hund erklärt, dass er nie verschwunden war. Aha. Na und?
Funken aus einer Banalität zu schlagen gelingt Dirk Held schon sehr viel besser, mit der richtigen Abnutzung durch Ironie. In seinem Gedicht „Möwen“ wird aus einer Betrachtung zunächst ein Phänomen, dann beinah sofort eine schlichte Erklärung und schließlich eine wegwerfende Handbewegung – eine schöne Struktur für ein Gedicht.
Karin Fellners Textrattern in Dreizeilenstrophen langweilt mich schnell. Es ist ein Generieren, das sich am bloßen Antifalsifizieren entlanghangelt; ein Instrument mit kleinen genialen Rädchen in der Mechanik … aber die Musik klingt einfach nach nichts.
Eine kräftige Sprache, die sich hin und wieder bauscht, aber eigentlich etwas Ungebändigtes mit starken Pinselstrichen aufleuchten und nachdunkeln lässt, es rau-schwer auf den Eindruck legt. Hartwig Mauritz‘ Nordsee-Summa Summarum ist damit wunderbar sinnlich-grob.
Es erinnert mich daran, dass alles, was ich entdecke, auch mich entdeckt.
Alle drei Texte von Martina Weber haben mich auf eigentümliche Weise berührt. Vielleicht liegt es daran, dass sie gleichzeitig abzuschweifen und zu fokussieren verstehen; in jedem Bild kann das Bild für sich stehen, aber es gibt auch eine Reihenfolge, die den Leser mit ihrer Abfolge konfrontiert.
Einen wunderbar weichkantigen Wortschatz hat „Status I“. Ein Prosagedicht, überschwänglich, es versteckt all seine Momente in separaten Metaphern und Schwenken. Etwas Größeres wird daraus nicht, selbst mit vielen gelungenen Illuminationen. Pega Munds Gedicht hat schöne Strömungen, aber nichts wird von ihnen erfasst und mitgetragen.
Der meiner Meinung nach beste Text des Heftes heißt „Doch Toni. Ich finde doch“ von Hedy Sadoc. Der Titel bezieht sich auf einen Ausspruch von Toni Morrison: „Don’t do that. Don’t write about your little life.“ Es ist ein unarrogantes, auf gelungene Art und Weise zärtliches Plädoyer, das sich nicht im Argumentieren verliert, sondern sich sofort ins Erzählen kleidet. Sicher, es bliebe zu fragen: Muss man wirklich über das kleine Leben schreiben, das man ja lebt und über das zu schreiben vielleicht gerade deswegen müßig ist, weil es ja nicht unbedingt zusätzlich er- und bedacht werden muss? Aber das alles mag nur der Erwiderungsreflex angesichts des Themas sein. Dem Text will ich diesen Einwand nicht entgegenstellen, er ist wunderbar!
Am 30. November war das Gedicht „An die Bramble-Cay-Mosaikschwanzratte“ von Mikael Vogel der Text des Tages hier auf Fixpoetry. Ich war damals schwer beeindruckt von diesem Gedicht, das sich einer vor kurzem ausgestorbenen Art widmete und so besonnen und fein eine Klage formulieren konnte. Im „außer.dem“ finden sich nun zwei weitere Gedichte von Mikael Vogel, die beide ebenfalls ausgestorbene Tierarten behandeln: die Wandertaube und den Huia (eigentlich einen Parasiten, der als Wirtstier nur diesen Vogel hatte und mit ihm ausstarb). Während einen das Wandertauben-Szenario in seiner Breite staunen lässt (es gibt, dies sei hier erwähnt, auch ein Gedicht von der Dichterin Silke Scheuermann über die Wandertauben und das letzte Exemplar Martha, das 1914 verstarb), ist das kürzere Huia-Gedicht mit einem Hauch Zynismus angesengt und endet mit einem sehr trefflichen, sarkastisch-ironischen Kommentar. Beide Gedichte sind nicht nur wegen der klug gewählten Formen, in denen die beiden Tiere ganz verschieden präsentiert werden, zu empfehlen, sondern auch als Lektion, als Denkanstoß oder, wenn es denn zu mehr nicht reicht, als Wikipedia-Stichwort.
Der Schluss gehört Dominik Dombrowski und seinen beiden kakophonischen Texten „Allerpunk“ und „Sonnenköpfe“. Wie ein ständiges Rekapitulieren wälzen sie sich ins Bewusstsein, und wo sie kurz etwas zücken, da ahnst du, worum es ging und geht – aber das verschwindet wieder in einem neuen Schnitt, der eine gelungene Formulierung aufdeckt. Wohin das Ganze? Keine Übersicht, nur Einsicht gibt es.
„Außer.dem“ 23 hat mir gut gefallen. Ein Heft, das durch die vielen kurzen Beiträge und die geringe Gesamtlänge zum Durchblättern und zum Innehalten einlädt. Gerade weil die Beiträge oft kurz sind, lässt man sich mehr Zeit mit ihnen. Das ist ein Riesenvorteil, wie ich bei manchen Texten gemerkt habe. Die vielen grafischen Elemente fördern ebenfalls die Lesefreundlichkeit, funktionieren für mich aber nur als Schmuck, als Hintergrund und Beiwerk – sie als etwas Eigenständiges zu sehen, das gäbe zu wenig her.
Am Heft beteiligte Autor_innen: Hansjürgen Bulkowski, Dominik Dombrowski, Dan Ciupureanu, Karin Fellner, Gerald Fiebig, Dirk Uwe Hansen, Dirk Held, Anja Kampmann, Manuela Klenke, Fitzgerald Kusz, Wiete Lenk, Anna-Kirstine Linke, Hartwig Mauritz, Rupprecht Mayer, Pega Mund, Jörg Neugebauer, Hedy Sadoc, SAID, Simone Scharbert, Erec Schumacher, Alke Stachler, Mikael Vogel, Martina Weber, Johannes Witek
Redaktion: Michaela Busenkell, Armin Steigenberger (v.i.s.d.p.), Christel Steigenberger, Thomas Steiner, Julia Wörle.
Fixpoetry 2016
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