Man kann auf alles schreiben
Der vorliegende Gedichtband Poesie passieren & passieren lassen von Astrid Nischkauer, der frisch in der parasitenpresse erschienen ist, ist nicht nur ein Band mit Gedichten einer Lyrikerin, sondern er ist gleichzeitig die Dokumentation einer Ausstellung, ein Katalog.
Die Gedichte darin scheinen noch weniger von ihrem Ort abtrennbar zu sein, als man das jedem Gedicht, das entsteht, zugestehen oder vielleicht nur andichten könnte. Was in dem Band hervorgehoben wird, ist, dass Gedichte an einem bestimmten Ort entstehen, einem spezifischen Dort, und dass sie mit diesem verbunden bleiben. Die Lokalität der entstandenen Lyrik ist sonst oft nicht rückführbar und wird auch selten sichtbar in einem Band platziert oder integriert: Gedichte sollen zeit- und ortsenthoben dastehen und gültig sein, über den Dingen schwebend. Das erscheint illusorisch.
Vielleicht sind es gerade Konzepte wie das vorliegende, Lyrik mit bildender Kunst und mit dem Ort und den Menschen, denen man begegnet, zu verbinden, die eine Unwiederholbarkeit und die Fragilität eines Gedichts (das destillierte Situation ist) sichtbar machen. Wenn sie sich öffnet und an dem Ort entfaltet, an dem sie entsteht, ist es plausibel, dass sich Lyrik mit Performance- und Bildender Kunst verbindet. Ungefähr so könnte die schlichte Schönheit beschrieben werden, mit der der Ausstellungsband »Poesie passieren & passieren lassen« ausdrückt, was er vollzieht.
Der Band dokumentiert die entstandene Ausstellung auf der ehemaligen Raketenstation Hombroich, auf der unter dem Namen Fellowship Literatur die Stiftung Insel Hombroich auf der ehemaligen Raketenstation ein Stipendienprogramm für Literatur eingerichtet hat. Es wird finanziert vom Land Nordrhein-Westfalen und vom Koordinator für Literatur Oswald Egger (bis 2005 Thomas Kling) betreut. Stipendiaten waren bis dato u.a. Elke Erb, Hans Till und Ann Cotten.
Die Ausstellung zu diesem Band fand im Pförtnerhäuschen des Areals statt. Das Werk wuchs während des mehrwöchigen Aufenthalts der Dichterin auf dem Gelände und wurde dort auch präsentiert.
In ihrem Beitrag auf Fixpoetry Poesie ohne Ende beschrieb die Autorin im Dezember 2015 die Installation wie folgt:
»Die Gedichte sind 24 Stunden da. Sieben Tage die Woche. Lesbar bis zum Sonnenuntergang, danach nur mehr mit Taschenlampe. Den Kern des Pförtnerhäuschens, den leeren Raum, lassen die Gedichte unangetastet. Sie stehen auf den Fensterbrettern, oder sind an die Fensterscheiben geklebt. Mit den Gedichten in seinen Fenstern nimmt der Raum Kontakt zu seiner Umwelt auf«
Der erschienene Band vermag leider nicht dieses Konzept einer Poesie ohne Ende abzubilden, denn natürlich gibt es ein erstes und ein letztes Gedicht. Das von der Autorin hervorgehobene Konzept eines Rundgangs, da man zum Lesen der Gedichte das Häuschen einmal umrunden musste, muss man sich mithilfe des Bandes vorstellen. Er erscheint daher als ein an die Ausstellung erinnerndes Zeugnis.
Der Aufenthalt von nur wenigen Wochen, befristet auf ein Projekt, kann unmöglich zum Ziel haben, sich an einem Ort niederzulassen. Andererseits könnte es gerade diese Abwechslung, die Wanderung sein, die hier zu spontanen Impressionen führen soll. Nichtsdestotrotz gelingt aber bei einem mehrwöchigen Aufenthalt durchaus eine Möglichkeit zur Beobachtung, zur Wahrnehmung von Stille, was die Dichterin in einem ihrer dort entstandenen Gedichte auch direkt ausspricht, eher eine Erklärung als ein poetischer Text:
dichten heißt
allein sein
allein sein können
mit sich selbst
dafür ist hier
der richtige Ort
um das
zu erproben.
Die Gedichte im Band sind in kleine Blöcke gesetzt, mal in die rechte, dann in die linke Ecke des Seitenspiegels, wie Fenster blicken sie den Leser an. Es sind Miniaturen, serifenlos gesetzt in einer relativ großen Schrifttype. Da liest man beispielsweise in der linken oberen Ecke einer rechten Seite:
mehrmals täglich
werfe ich
einen Marienkäfer
zur Tür hinaus
Es sind Eindrücke der Umgebung, die transportiert werden, die eine Tür formulieren zu wollen scheinen, durch die der Leser eintreten, passieren können soll. Es entstehen beinahe bewegungslose Miniaturskizzen, die nur vermittelt durch den Bezug auf Träger und Ausstellungsort einen Zusammenhang herstellen lassen. Diese Lücken im Verständnis fordern den Leser heraus, mehr zu entdecken als das, was dort steht, den Ort zusammenzubasteln, zu rekonstruieren. Die Miniaturen als Türöffner zu lesen, erscheint dabei durch die Setzung der Texte in kleinen Blöcken intendiert.
In diesem Fall rückt die Architektur des Komplexes in den Vordergrund, so wie Autobahngeräusche und auch immer wieder der Rost, die Zeit, die sich auf Unbenutztem ablagert:
blühende Rottöne
leuchtende Baumringe
kostbare Steine
unter dem allmählich
abbgeblätterten Hellgrau
der Metalltür bricht
der Rost hervor
Auf der Hand scheint es zu liegen, dass das Funktionsgebäude eines Pförtnerhauses mit dem Titel des Bandes korrespondiert. Das Eintreten, Betreten und Begrüßen scheint den Gedichten eingeschrieben. Eine Tür, die sich öffnet, ist auch die Lyrik selbst, wie sie gleichzeitig an den Zufall und die Inspiration zu appellieren scheint, wenn sie vom Passierenlassen erzählt. Die Poesie als eine offene Tür, gleichzeitig auch als Wesen, das passieren will und auf eine offene Tür im Leser, aber auch im Dichter hofft und wartet, auf Besuch. Die Ausstellung als poetologisches Konzept gelesen, das den Ort mit einbezieht und zum Träger für die Gedichte selbst wird, lässt den vergänglichen Anker eines jeden Textes, seine Zeitlichkeit und seine räumliche Notwendigkeit und Temporalität erfahren.
Fotografien dieses temporären Kunstwerks vermitteln den Eindruck, das einmalig Entstandene dauerhaft zu erhalten, zu dokumentieren. Abgebildet wird auch Geschriebenes auf Kaffeefiltern, an Fenstern provisorisch mit Klebeband befestigt und an andere Vorrichtungen gehängt, die Wahl des vergänglichen, filigranen und leicht durchsichtigen Materials scheint zusätzlich den Einfall eines Moments hervorzuheben. Auch wird deutlich, dass der Text mit dem Material, auf dem er geschrieben wurde, kommuniziert.
Die Frage der Materialität war auch für die Autorin entscheidend. Das Projekt betont immer wieder das Konzept, erklärt die Wichtigkeit des Materials für das Entstehen von Gedichten:
» Verwendung von Verpackungsmaterial hatte auch Einfluss auf die Auswahl der Gedichte. Denn nicht alle Gedichte eignen sich dafür, eher nur kürzere. Häufig änderten sich auch die Zeilenumbrüche komplett, da sich das Gedicht der Schreibunterlage und dem damit zur Verfügung stehenden Platz anpasste. Tendenziell wurden die Gedichte somit länger und schmaler. «
Die Hervorhebung von Zeit, Raum, Material und Platzierung in einem solchen Ensemble bzw. einer solchen Collage als Bedeutungsträger muss in die Interpretation der Texte mit einfließen. Die Texte scheinen auf den Ort gelegt, nur in diesem Bezug existent.
Darüber hinaus befindet sich linksseitig im Gedichtband neben einer Fotografie ein Gedicht, das den Band einleitet und das Ute Langanky über den Aufenthalt Astrid Nischkauers und die Ausstellung geschrieben hat.
Ute Langanky begleitet als Bildende Künstlerin die Stiftung Insel Hombroich seitdem sie 1994 einen ehemaligen Bunker auf dem ehemaligen Militärgelände zusammen mit dem Lyriker Thomas Kling bezog.
Es entstanden Kooperationsprojekte bzw. der künstlerische Austausch bspw. zwischen ihren Fotografien und Langgedichten von Thomas Kling, erschienen in TEXT+KRITIK Nr. 147, wobei der Prozess einer Korrespondenz im Mittelpunkt der Projekte steht und stand.
Dies betont eine weitere Ebene des Aufenthalts Astrid Nischkauers, nämlich den Austausch mit anderen Künstlern, der neben dem Ort und der Materialität eine weitere Komponente des Konzepts darstellt, der Öffnung nicht nur im Raum sondern auch in der Korrespondenz.
Hierzu hat Astrid Nischkauer unter anderem Wanda Koller interviewt, allerdings, und das betont ihr Konzept der Begegnung und der Offenheit, ohne Fragen vorzubereiten und zu stellen, wodurch sie ihrer Gesprächspartnerin die Entscheidung überließ und so entschied sie, über den Begriff der Entscheidung zu sprechen, nichts hätte näher gelegen.
Dieser Austausch, der die Dimension eines Kunstwerks um eine weitere Komponente erweitert, lässt die Frage nach dem Ende, der Beendigung aufwerfen.
Das Gedicht von Ute Langanky über den Aufenthalt Astrid Nischkauers erweitert das Kunstwerk und seine Wirkung erneut in Form eines bleibenden Gedichts, sodass noch einmal klar gemacht wird, wie prozesshaft sich Ereignisse im Austausch verwandeln und wie eine Betrachtung die andere ablöst in Aktualisierung und Verwandlung des jeweils Vorgefundenen. Jenes Gedicht reflektiert das Konzept der Ausstellung, wo es ab der vierten Strophe heißt:
in den fenstern des pförtnerhauses
ließ sich einige wochen lang lesen
›Poesie passieren & passieren lassen‹
anderes tritt in den blick
etwas wird zurückgelassen
eine weitere passantin
Ausstellung und Aufenthalt, Austausch und Gestaltung des Vorgefundenen, wurden in diesem Projekt nicht nur realisiert, sondern auch in Form von Konzeptualisierung, Gesprächen und Reflexionen im Vorfeld dokumentiert, die auf Fixpoetry veröffentlicht und transparent gemacht worden sind.
So viele Möglichkeiten, seine lyrischen Erzeugnisse auszustellen und zu verbreiten1, der spezifische Ort der Dichterin aber auch zu bieten scheint, so unausgeschöpft würden die abgedruckten Texte erscheinen, wenn man sie aus diesem Kontext herausheben würde.
Sie funktionieren ausschließlich vermittelt über ihren Kontext. Interessanterweise findet man dazu auch Hinweise im Band selbst. Die Texte reflektieren selber in diese Richtung, wenn es etwa in der Mitte des Bandes heißt:
es hatte Kunst
sein wollen,
wehrte sich lange
vehement dagegen,
wieder einigermaßen
ins Rollen
zu kommen,
erst der Fahrtwind
weckte die Erinnerung
Metaphernentleert und schmucklos kommt diese Reflexion, diese Erklärung daher, sodass die Frage, ob das Gedichte seien, zunächst ratlos macht. Im Kontext des Projekts tritt der Ort zum Verständnis wieder hinzu. Das Gedicht ist beim bzw. nach dem Besuch einer Kunstaustellung entstanden, da der Komplex auch Sammlungen, Archive und Ausstellungen zeitgenössischer Kunst beherbergt.
Doch nicht alle dieser Texte vermitteln den Eindruck der reinen Erklärung. Im Gegensatz zur eben zitierten Stelle findet sich stilistisch an anderer Stelle eine Häufung von Bildern, die gerade als Häufung ironisch gelesen werden kann:
sanddornbekränzt
hagebuttenbehangen
nachtkerzenerleuchtet
gebettet in Brennnessel
die alten Erdwälle
und Schutzbunker
die neuen Bauten
und Kunstwerke
Es ist ein erstaunlich offenes und ehrliches Zeugnis der Ideensammlung und Eindrücke einer Dichterin, die zum Zweck, Gedichte für eine Ausstellung zu schreiben und dabei gleichzeitig diese Erzeugnisse mit dem Material des Ortes zu verbinden, an einen einsamen Ort gegangen ist und die dabei auf allen Ebenen mit dem dort Vorhandenen gearbeitet hat, das ihr begegnet ist.
Nischkauer entzieht sich in ihrem Schreiben nicht, auch wenn es scheinbar nichts zu sagen gibt, wenn die Stille einfällt, wenn es kein Ereignis gibt und die Texte mit dieser Ereignislosigkeit mal ironisch, mal erklärend umgehen.
Dennoch bleibt beim reinen Lesen des vorliegenden Bandes der Wermutstropfen, dass diese Art der Performanz gedruckt nicht ganz so funktioniert wie im lebendigen Bereich des prozessualen Kunstwerks.
Der Band trägt in jedem Fall dazu bei, Ideen zu der Frage, in welchen künstlerischen Kontext Lyrik stärker eingebunden werden kann, nach außen zu tragen.
»Man kann auf alles schreiben«, sagte Ruth Tesmar. Ihr Atelier im Dachgeschoss der Humboldt-Universität zu Berlin war über Jahre hinweg ein stabiles und ständig wachsendes Ensemble, ein Gesamtkunstwerk, bestehend aus Collagen, Lyrik, kleinen Gegenständen, die miteinander korrespondierten. Der vorliegende Band, der sich in solch einen Kontext einbeziehen lässt, hilft, solche Orte wertzuschätzen und zu erhalten, vor allem auch die Spuren, die an Orten hinterlassen werden, sichtbar zu machen, auch wenn es in diesem Fall ein temporäres, aber sehr gut dokumentiertes Experiment war und das der vorliegende Band zum Abschluss bringt.
Auf zerknittertem Papier, Altpapier, schon benutzt, es könnte sich um einen alten Briefumschlag handeln, schreibt Astrid Nischkauer passend dazu, zum Ende hin zitiert:
graue Papierwellen-
flut
Pappkartonspiegelungen
lautlose Auffaltungen
Lochmusterschatten
geknüllt Geknittertes
weißes Rascheln
Zuckerwürfelfüllung
sich im Dunkel
verlierende
Raumschichtungen
Bemerkenswert an diesem Konzept ist die Betonung der Öffnung eines lyrischen Erzeugnisses, das an einem bestimmten Ort entsteht, sich in einer Installation mit dem Ort des Entstehens verbindet und sich so durch die Betrachtung, des Gehens durch eine Ausstellung erkunden lässt, und das auch der Lyrikerin die Möglichkeit gibt, sich als diese spezifische Person durch ihre Anwesenheit auch anderen Künstlern zu öffnen.
Das Prozessuale und die Resonanz darauf hören nach Beendigung einer Ausstellung nicht einfach auf, sondern der vorliegende Band scheint dazu aufzufordern, sich darüber nicht nur weiterhin Gedanken zu machen, sondern auch an der Verwirklichung dieses Austauschs mitzuwirken. So ist der Band nicht nur als Dokumentation, als Zeugnis zu lesen, was einen Schlusspunkt markieren würde, sondern auch als Aufforderung nach dem Lesen der Texte, den eigenen Bezug dazu zu gestalten.
- 1. frei nach Prof. Dr. Ruth Tesmar, der ehemaligen Professorin für ästhetische Praxis an der Humboldt-Uni Berlin, die einmal sagte »Man kann auf alles schreiben«
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