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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Der Verwundete und die Scham

Max Frischs »Aus dem Berliner Journal« ist ein wichtiges und zu wenig konzentriertes Buch.
Hamburg

Tagebücher sind so ein Sache. Wer sie schreibt, um sich selbst und sein Leben zu vergegenwärtigen, wird sie kaum veröffentlicht wissen wollen: Kafka. Wer sie schreibt, um sie zu veröffentlichen, hat möglicherweise eine etwas zu hohe Meinung von der eigenen Bedeutsamkeit: Thomas Mann.

Max Frisch bewegte sich zwischen diesen Polen. Sein erzählerisches Werk entstand aus dem Tagebuchschreiben; er selbst hat mal gesagt, das Diarium sei die einzige ihm entsprechende Prosaform.

Jetzt, könnte man sagen, ist wieder ein Tagebuch von Frisch erschienen. Aber der Satz wäre schon falsch. Es ist bloß ein Auszug, und das, was an diesem Auszug bedeutsam ist, ist eher eine Studiensammlung als ein Tagebuch.

Das Werk heißt »Aus dem Berliner Journal«. Es umfaßt Notate des Autors aus den ersten Heften des genannten Journals aus den Jahren 1973 und 1974, einem Zeitabschnitt zwischen dem Bezug der Berliner Wohnung in der Sarrazinstraße, die Frischs damalige Frau Marianne entdeckt hatte (und in der sie heute noch lebt) und Frisch Abreise nach New York, wo dann das passierte, was wir in »Montauk« nachlesen können.

Frisch hatte das Journal durchaus zur Veröffentlichung vorgesehen, allerdings gesperrt bis zwanzig Jahre nach seinem Tod. Herausgeber Thomas Strässle hat nun ausgewählt, was davon zu publizieren ist; das meiste nicht, und zwar wegen der möglichen Verletzung von Persönlichkeitsrechten. Für alle Frisch-Enthusiasten ist das zu wenig. Für alle anderen (etwas) zu viel.

Vor allem in den ersten Passagen erleben wir einen Autor, der uns erzählt, daß ihm die gleichen Zufälligkeiten passieren wie normalen Menschen auch: Die Möbelpacker stellen irgendwo einen Schrank ab, und da steht er dann und bleibt auch stehen. Nicht so wichtig. Wir erfahren Persönliches – daß Frisch sich nicht mehr viele Jahre gibt (Irrtum), daß er zu viel trinkt (kein Irrtum), daß er »horrende Auflagen« mit seinen Bücher erreicht und daß dieser Umstand nichts bestätigt und nicht mal Freude auslöst (Lehrstück für alle, die nach Erfolg lechzen). Aber hätten wir das gebraucht? Nun, vielleicht dies: »Seit ich die Notizen, die anfallen, in ein Ringheft einlege, merke ich schon meine Scham; ein Zeichen, dass ich beim Schreiben schon an den öffentlichen Leser denke …«

Wichtig werden die Auszüge aus dem »Berliner Journal« dort, wo Frisch zu seiner Meisterschaft aufläuft: der Menschenbeobachtung. Und hier sind es vor allem die Notizen über die Schriftstellerkollegen aus der Nachbarschaft (Grass, Johnson) und die aus Ostberlin (Wolf, Biermann, Kunert), wo sich Frisch fast häufiger aufzuhalten scheint als im Westen und wo er das System mit kalter Feder seziert.

Zu den Menschen in der DDR vermerkt Frisch das ständig Verhaltene, die latente Bedrohung, in der sie leben, die leise Verzweiflung über Mangel an Lebensnotwendigkeiten in puncto Waren wie in puncto Offenheit: »So viel Charakter, um ihn in einem solchen Betrieb nicht zu verlieren, hat der Mensch von Natur nicht.«

Vor allem Uwe Johnson betrachtet der 23 Jahre ältere Frisch mit unerschütterlicher Sympathie, trotz dessen Rigorismus und Vertracktheiten (»er spricht in Kreuzworträtseln«) und der Sauferei – »er erscheint als Verwundeter« – da mag sich Frisch selbst erkannt haben. Und bei Günter Grass stößt man, nach anfänglichem Wohlwollen, auf eine wasserklare Analyse dieses offenbar von jeglichem Zweifel freien Verkündungsbewußtseins: »Anruf von einer Redaktion genügt, und er verlautbart. « Präziser als mit dem zweiten Halbsatz kann man Grass nicht beschreiben, heute schon gar nicht mehr.

Ein gutes Buch? Ja. Wichtig? Ja. Und sehr liebevoll gemacht, mit einem gewaltigen Anhang, der jede erwähnte Person und jeden beschriebenen Umstand erläutert. Aber wenn schon was vom Original weggelassen wurde, hätte man auch die Möbelpacker und dergleichen weglassen können: mehr Konzentration.

Aus dem Berliner Journal
Herausgegeben von Thomas Strässle unter Mitarbeit von Margit Unser
Suhrkamp
2014 · 235 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-518-42352-3

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