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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Kritik

„Hölle im Paradies”

Hamburg

Der vor zwei Jahren erschienene Band Fremdes wahrnehmen, aufnehmen, annehmen diskutiert anhand von Fallstudien mit Fokus vor allem auf Deutschland und Italien, was geschehe, wenn Sprachen und Kulturen miteinander in Kontakt geraten: Ob es zu Interferenzen komme, welche Tiefe der Kontakt haben könne und müsse, ein spannendes Feld also. Diesen Kontakt bekommt dann auch der Leser gleich, denn die ersten 30 Seiten darf er sich durch italienische Texte arbeiten, die übrigens nicht uninteressant sind, deren Verständnis aber jedenfalls mir Mühe bereitete; und es folgen weitere… Das ist einerseits stimmig – andererseits fragt man sich, warum einer breiteren Rezeption des Bandes, der freilich auch so kein Bestseller geworden wäre, schon damit systematisch vorgebeugt wurde, man nicht eine italienische und eine deutsche Fassung des Bandes in Erwägung zog.

Diese hätte vieles im Band verdient. Sehr spannend sind die Untersuchungen zum Phänotyp des Höflings, den mediocritas auszeichnen solle, „nicht zu sehr zu gefallen, um wirklich zu gefallen”, wie es hier heißt – diachrone Interferenzen, die spannend auch in Bezug auf das sind, was als das Schöne heute zelebriert wird: „Eine unschöne Frau mit laubgesägtem Gouvernanten-Profil bringt kleine Mädchen zum Weinen, indem sie ihre orthodoxe, hochgerüstete Belanglosigkeit zum Maßstab humaner Seinserfüllung hochschwindelt, über ‚Persönlichkeit‘ redet, sich aber kaum mehr erinnern kann, was das ist, und sollte diese je zum Vorschein kommen, sie mit Rauswurf bestraft.”  – Mediocritas

Ebenfalls spannend ist die „Hölle im Paradies”, als welche das Fremde mit Goethe gelesen wird. Klug sind ferner die Annotationen zu Celans Texten, die schon in sich das „disjunktive Wiederholen bzw. transformative Übersetzen” seien; allerdings ist hier wie auch in anderen Beiträgen der Verbleib bei poetologischen (Selbst-)Kommentaren, die mit älteren Befunden zusammenfaßt werden, zu monieren, würde die Exemplifikation gut tun, die Arbeit daran, was Kontakt denn nun mache, nicht eine Sammlung von Thesen, die den Kontakt sozusagen als sich erübrigend resümieren, weil nunmehr das Resultat vorliegt.

Die Beschreibung von Benjamins Texten – „ein konkretes Bild” löse sich „in ein dickes Netz von Relativsätzen auf, das unmittelbar auf weitere, unerwartete Bilder verweist” – ist dagegen fast grandios, präzise belegt Francesca Boarini auch, wie diese Verfahrensweise auf Übersetzungsversuche reagiert: bis in die Interpunktion, „stilistisch bedeutend wirkt auch der Gedankenstrich in […], wo er anstatt eines bloßen koordinierenden Kommas vorkommt, um das stille Gedankengeräusch hervorzuheben, das eine neue, unerwartete Überlegung ankündigt.” Da wird Form Funktion, da ahnt man den Imperativ an die Übertragung. Dieser als Irritation beschließt den Text, der analytisch fein verfährt, nämlich mit Canetti: „Am Übersetzen ist nur interessant, was verloren geht; um dieses zu finden, sollte man manchmal übersetzen.” So lebendig sind die besten Texte hier, die gewisse Durststrecken kompensieren.

Alles in allem also ein Band, der Interesse erfordert, keine Frage, aber mitunter sehr zu gefallen weiß.

Barbara Hans-Bianchi (Hg.) · Camilla Miglio (Hg.) · Daniela Pirazzini (Hg.) · Irene Vogt (Hg.) · Luca Zenobi (Hg.)
Fremdes wahrnehmen, aufnehmen, annehmen
Studien zur deutschen Sprache und Kultur in Kontaktsituationen
Bonner romanistische Arbeiten - Band 109
Peter Lang Verlag
2013 · 372 Seiten · 62,95 Euro
ISBN:
978-3-631-63742-5

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