Barbara Zeizinger steigt in den Fluss der Vergangenheit
Barbara Zeizinger ist eine in mehren Genres produktive und erfolgreiche Autorin, Übersetzerin und auch auf Fixpoetry eine oft zu lesende Rezensentin. Ihr vorliegender Roman Am weissen Kanal folgt ihrem schönen Lyrikband Weitwinkel nah (2013) und ihrem sehr einfühlsamen und sympathischen Reisebericht Kuba. An den leichten Ufern des Wassers (2012).
Das neue Buch umfasst wenig mehr als 200 Seiten und enthält in sehr schöner knapper und punktgenauer Sprache die Erzählung vom Großvater als jungen Soldaten in den Jahren des Zweiten Weltkriegs, nach seinem Tod aufgefunden und beschrieben durch seine Enkelin. Zeizingers Roman nutzt eine Zeitspannung zwischen Ereignis und weit zurückliegendem Geschehen, zeigt sich als Aufarbeitung und Erarbeitung ungekannter Vergangenheit im Sprung in ein scheinbar bekanntes Verwandtenleben.
Der Beginn des Romans ist typisch für Zeizingers unmittelbares Eintauchen in ihre Gegenstände: Die Enkelin, Irene, steigt angezogen und mit Schuhen in den kalten Rhein und geht einige Schritte, verharrt und kehrt um. Sie tut dies an der Stelle, an der vorher der Großvater, voll angezogen, in das Wasser des Rheins stieg, um anscheinend einen kleinen Jungen zu retten. Als der von seinem eigenen Vater bereits herausgezogen worden ist, geht der alte Mann weiter und weiter und kehrt nicht mehr um. Wie sich zeigen wird, stirbt er seinen vergeblichen Tod als Retter, gibt er so spät sein Leben, nachdem es ihm als junger Soldat nicht gelungen war, einen jungen Menschen zu retten, weil ihm dazu der Mut fehlte. Barbara Zeizinger und ihre Erzählerin steigen in den Fluss der Vergangenheit, den gleichen und doch einen anderen, und holen den ertrunkenen Großvater und seine misslungene Tat ins Lebenslicht. Irene erforscht und lernt ihn neu und anders übers seine nachgelassenen Papiere kennen. Nicht nur diese Erzählerin, auch die Autorin ist sehr großer Empathie fähig. Sie steigt in die Fluten, sie watet in den strömen den Fluten und in den schmerzenden Wehrmachtsstiefeln von Soldaten während des Krieges auf dem Balkan und in Italien.
Zeizinger findet eine exakte zeitgenössische Sprache in den Erzählpassagen und vielen eindrücklichen Dialogen zwischen den Kameraden des Großvaters sowie von Irene und ihrer Familie. Wir lesen einen Roman mit einigen schlimmen Kriegsszenen aus den Jahren 1941-45 in der Sprache einer Frau. Das kann nicht leicht gewesen sein, denn die Autorin belebt Szenen aus dem Soldatenmilieu, die ihr ungewohnt gewesen sein müssen. Doch gelingt ihr eine große Unmittelbarkeit. Wir sehen und hören zu bei den bösen „alltäglichen“ Ereignissen im Jahr 1943 in Italien, wenn, nach dem Sturz Mussolinis und dem Ausscheren der Italiener aus dem Bündnis mit den Deutschen, die ehemaligen Verbündeten als Besatzer auftreten, einen Bauernhof besetzen und das Vieh als Nahrung für sich reklamieren. Wir kennen diese lustigen Fotografien unserer Väter oder Großväter aus den eigenen Familienalben, von Männern, die an einem zu schlachtenden Schwein oder Schaf zerren und das Recht des zunächst Stärkeren in Anspruch nehmen, die sich lautstark gebärden, um in ihrer Unkenntnis von Sprache und Land so selbstsicher zu erscheinen, wie sie es nicht sind. Sie befinden sich ja in Italien in einem plötzlich feindlichen Land, und den Bewohnern sind sie nicht mehr Freunde, sondern zu vertreibende Eindringlinge. Es gibt Szenen zwischenmenschlicher Auseinandersetzung in diesem Buch, die wie „Bombensplitter“ . . . im Kopf stecken“ bleiben.
Einer dieser Splitter ist die subjektive Beobachtung, dass völlig heterogene Vorkommnisse, Ideen, Gedanken, Taten und Untaten zusammen geschehen können, unaufgerufen und mit verheerender Wirkung. Im Zentrum steht der sinnlose Tod eines Jungen und der Tod eines einstmals jungen Menschen, der letztlich an der Erinnerung daran - wörtlich! - zugrunde geht. Und da ist die Notwendigkeit der Aufarbeit durch die später Geborenen der gleichen Länder, die in der gedanklichen Wiederholung und Benennung des tragischen Geschehens verstehen lernen und mitleiden können
Barbara Zeizinger ist ein eindrucksvoller und sehr lesenswerter Roman gelungen, den der Rezensent nachdrücklich zur Lektüre empfiehlt.
Fixpoetry 2014
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