Die Einsamkeit zu dritt
Der Ich-Erzähler Ender und sein bester Freund Çetin sind Ende dreißig und plagen sich in ihrer Kumpel-WG in Ankara mit der Ich-Suche kurz vor der Midlife-Crisis, oder besser gesagt: Sie versuchen sich damit zu arrangieren, dass ihre Jugend vorbei ist. Während Çetin die Tage außer Haus verbringt, sitzt Ender im Home Office und übersetzt Sachbücher und knabbert an seiner Sehnsucht nach Sevgi, die ihn nach einer zwei Jahre währenden Beziehung verlassen hat. Dass der Singlehaushalt so gut funktioniert ist nur dem Umstand geschuldet, dass Ender und Çetin ein eingespieltes Team sind; sie kennen sich seit der Schulzeit, manch ein Nachbar hält sie für schwul, aber das kümmert sie nicht weiter.
Bis zu jenem schicksalhaften Tag, an dem ihr Freund Fikret in einen Autounfall verwickelt ist, bei dem seine Eltern sterben. Da er zurück in seine Wahlheimat USA muss, vertraut er seine kleine Schwester Nihal den Kumpels an, die seine einzigen Vertrauenspersonen in Ankara sind. Noch zwei Jahre hat Nihal bis zum Abschluss ihres Studiums, dann soll sie ihrem Bruder über den großen Teich folgen. Nihal ist jung, rätselhaft und natürlich wunderschön, und natürlich verlieben sich Ender und Çetin in sie. Im Laufe der zwei Jahre werden die drei zu einer kleinen, ungewöhnlichen Familie, verbringen ihre Freizeit miteinander, teilen ihre Malaisen. Aber nicht ganz … Nihal bleibt verschlossen, stellt viele Fragen, erzählt aber wenig von sich selbst. Beide Männer ergehen sich ihr Gegenüber in Andeutungen, behandeln Nihal mit Liebe, Fürsorge und Respekt, aber keiner bringt es über sich, den anderen zu verletzen, indem er Nihal seine Liebe gesteht. Stattdessen warten beide auf ein Zeichen von ihr, hoffen, sie würde sich für einen von beiden entscheiden und hoffen es zugleich nicht, denn sie wissen zu gut, was das für ihre Freundschaft bedeuten würde.
Während sie sich in ihren Fantasien verlieren steht immer die Frage im Raum, ob Nihal ebenso empfindet oder ob alles nur die Illusion von Männern ist, die sich in einem ganz anderen Universum bewegen, Çetin der Pragmatiker, der Macher, und Ender der Sanfte Bücherwurm, der immer wieder merkt, wie sehr sein Leben an ihm vorbeizieht, wie sehr seine Passivität verhindert, dass er in der Welt so richtig ankommt.
Quelle: Bizim Büyük Çaresizliğimiz (Unsere große Verzweiflung) Quelle: Türkisches Filmfest Ruhr
„Unsere große Verzweiflung“ ist ein Roman, der auf leisen, sanften Katzenpfoten daherkommt, in einer wundervoll einfühlsamen Sprache, was im Deutschen nicht zuletzt der großartigen Leistung von Übersetzerin Sabine Adatepe zu verdanken ist. Es sind gerade die kleinen Szenen der Alltäglichkeit, wie eine nächtliche Begegnung im Flur oder die Gemütsspannung während die drei Protagonisten gemeinsam kochen, die den Roman so stark und intensiv und nachfühlbar machen. Barış Bıçakçı nimmt seine Figuren ernst und erzählt mit enormer atmosphärischer Dichte, so dass man die schleichende Verzweiflung von Ich-Erzähler Ender durch und durch nachvollziehen kann. Es ist nicht zuletzt ein Buch, das tief in die Untiefen zwischenmenschlicher Beziehungen vordringt und sich nicht scheut, die Lebenslügen, die wir alle uns zurechtzimmern, zu entlarven. Eines jener Bücher, die man nur schwer aus der Hand legen kann, das man am Ende am liebsten sofort wieder aufschlagen und erneut lesen würde. Ein literarischer Glücksfall.
2011 wurde der Roman von Regisseur Seyfi Teoman verfilmt.
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