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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Vom Glück am Leben gewesen zu sein

Hamburg

August ist acht Jahre alt. Er hat seine Mutter auf der Flucht aus Ostpreußen verloren, sein Vater ist Soldat und wird vermisst. Um seinen Hals hängt eine Pappkarte mit der Aufschrift „Waise“. Lilo ist siebzehn und so etwas wie sein Schutzengel. Zusammen mit vielen anderen, die an den „Motten“, also der Tuberkulose erkrankt sind, bewohnen sie die Mottenburg. Die Mottenburg ist ein altes Schloss, das in den ersten Jahren nach Kriegsende als provisorische Lungenheilsanstalt an der mecklenburgischen Küste eingerichtet wurde. Das war vor sechzig Jahren, aber die Erinnerung daran ist bis ins Alter geblieben. Jedes Erlebnis, jedes Detail erscheint August vor seinem inneren Auge. „[Der] Holunderbusch, der sich an die eine steinrote Hauswand klammert, das riesige, leicht wellige, sonnengelbe Getreidefeld. Die Massen von blauen Kornblumen und rotem Klatschmohn an seinen Rändern. Die wechselnden Formen der Wolken am tiefblauen Himmel. Die Pumpe vor ihrem Haus. Und immer ist Sommer.“

August fuhr nie in seine alte Heimat, die Heimat der Kindheit zurück. Das Wort „Heimweh“ kennt er nicht. Heute fährt er Reisebusse. Ein Job, für den er langsam zu alt ist. Das merkt er, wenn er den Bus am Ende seiner Tour von Prag nach Berlin in seiner neuen, seiner jahrelangen Heimat durch den Berufsverkehr manövriert. Wenn er sein Fahrzeug zurück in den Bushof gebracht hat, kehrt er in seine leere Wohnung zurück. „Es ist nicht gut in eine leere Wohnung nach Hause zu kommen. Man gewöhne sich daran, hatten sie ihm gesagt, als Trude gestorben war. August hat sich nicht daran gewöhnt.“ Versöhnt ist er mit seinem Leben trotzdem. Er hat Glück gehabt.

August hat den Krieg überlebt und seine Zeit auf der Mottenburg. „Einen Sommer lang, einen Herbst und einen Winter.“ Ohne Lilo hätte er das nicht geschafft, da ist er sich sicher. Die kecke Siebzehnjährige ist die Einzige, die es wagt der Oberschwester zu widersprechen und bald darauf zu einer Art Assistenzschwester, schließlich sogar zum Schutzengel des Schlosses wird. Lilo ist Augusts einziger Ankerpunkt in einer Welt, in der er alles verloren hat. August hält sich an ihr fest, hängt sich regelrecht an sie. „Sie hat es sich gefallen lassen, die Frauen im Frauensaal lachten schon über sie beide, sie, Lilo, sei die Prinzessin, und August sei wohl ihr Page.“ Ganz unzutreffend ist dieser Eindruck nicht, doch Augusts platonische Liebe wird dadurch gestört, dass Lilo auch für andere im Schloss da sein muss und das auch will. Denn Lilo ist das soziale Gewissen in einer Zeit, in der Zusammenhalt zwar gefragter ist denn je, in der der nackte Pragmatismus aber nicht selten die Oberhand behält. So verteidigt sie etwa den wilden und unberechenbaren Ede gegenüber der Oberschwester. „[Der] hat keinen Schaden im Kopf. Der hat einen Schaden durch irgendetwas, was er erlebt hat und was zu viel für ihn war. Darum hat er alles vergessen.“ Als Lilo beiden, Ede und August, Nachhilfe in Rechtschreibung gibt, wird August endgültig zu einem unter anderen. Die Entfernung von Lilo schreitet voran, wie auch das Ende seines Aufenthalts in der Mottenburg näher rückt.

Die Mottenburg verlässt man nur auf zwei Wegen, genau genommen auf dreien. Entweder wird man als geheilt entlassen oder im Sarg in die benachbarte Kapelle getragen. Dabei achten einige der Patienten genau darauf, ob der Leichnam des Verstorbenen mit den Füßen oder dem Kopf zuerst aus dem Schloss getragen wird. „Wenn sie nämlich zuerst die Füße hinaustrugen, würde diesem Toten bald ein nächster folgen, sozusagen nachlaufen. Das war verbürgt.“

Über Christa Wolfs letzter Erzählung August schwebt der Tod. Der Kriegstod, der Nachkriegstod und der Tod im Alter. Es geht um Mutproben, die mit Särgen zu tun haben, um die Gewissheit, wann einem Kranken nicht mehr zu helfen ist, vor allem aber geht es ums Überleben. Und es geht darum, wie man auf ein solches Leben, das anfangs auf der Kippe stand, zurückblickt. Die Rückschau auf das Leben des Protagonisten August, der bereits in dem 1976 erschienenen Roman Kindheitsmuster eine Rolle spielte, erscheint recht unspektakulär. August hat überlebt, seine Frau Trude geheiratet, ein ruhiges und zufriedenes Leben als Busfahrer gehabt. „Immer noch ist er nicht imstande, in Worte zu fassen, was er fühlt. Er fühlt etwas wie Dankbarkeit dafür, dass es in seinem Leben etwas gegeben hat, was er, wenn er es ausdrücken könnte, Glück nennen würde.“ Das Glück, das er nach dem Krieg in Lilo gefunden hatte, begegnete ihm später wieder. Gegen Ende seines Lebens ist August vielleicht ein langweiliger, aber zufriedener Mensch.

Natürlich kann man Christa Wolfs Erzählung als persönliches Requiem auf ihr eigenes Leben lesen. Der im Buch nachgedruckte Brief an ihren Mann, dem sie August schenkte, legt diese Lesart nahe. Und auch die Tatsache, dass August ein Wiederaufgreifen des autobiographischen Romans Kindheitsmuster darstellt, weist in diese Richtung. Darüber hinaus ist die Erzählung eine absolute Empfehlung für all jene, die nicht nur hervorragend komponierte Prosa zu schätzen wissen, sondern erfahren wollen, was es mit der Kraft der Erinnerung und dem sogenannten Glück im Leben auf sich hat.

Christa Wolf
August
Suhrkamp/Insel
2012 · 38 Seiten · 14,95 Euro
ISBN:
978-3-518423288

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