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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Kollisionen im Alltag

„Christine Goßkinsky hört dem Alltag zu und findet Dramen. Es geht um Liebe und Tod, Geld und Urlaub, Begriffe und Haltestellen. Die Handlungen spielen in den Gegenden von Rhein Main und Neckar.“ So lädt der Klappentext dieses Buches ein aufzublättern, was hier gemeint ist mit Drama und Alltag, und man findet Stichworte in den Ecken und auf den manchmal fast leeren Seiten Gespräche, unbeabsichtigt mitgehörte Dialoge, im Zug, in der Apotheke, im Flugzeug, von überall, wo man nah genug mit dem Leben anderer kollidiert, um einen Moment davon zu bezeugen. Ständig durchkreuzen uns fremde Leben, uns wesensfremde attitudes und Erscheinungen, so viele, daß nur manchmal nur noch Schotten helfen.

Christine Goßkinsky schnappt Gespräche auf, notiert sie im O-Ton, inclusive Mundart und falscher Grammatik, kleine Inseln von Alltagskommunikation, die, wenn man sie frei in den Raum stellt, auf eine sonst leere Buchseite montiert, mehr sagen, als lapidare Begehren oder törichter Ärger in den Sätzen eigentlich sagen wollen. Die Kleindramen werden typografisch gestützt, erkennbar an den Dimensionen der Schrift sind Lautstärke und Vehemenz – da antwortet einer fetten großen Schrift und stark versetzt ein magerer dünner Satz.

Ein paar Stichworte (oft im fetten Dialekt) mögen illustrieren, um welche „Themen“ es geht:

Combiudor, Daub, Katalane, Damenrasierer, Bingken (dasjenige am Rhein ist gemeint), Auschillen, Dagreis (wenn man einen ganzen Tag unterwegs ist), Sstutgat, Üpzilont, Holmenkolmen, Ortsvereinigung, Ischtanbul, Eider, Schtatig, Kaufhof.
Spielorte und Rollen finden die „Dramen“ u.a. hier: Zug bei Neckargerach, zwei ältere Frauen | Fest. Mainz, Betrunkener | Zug Wiesbaden – Frankfurt, junge Designer | Straße, Frankfurt, zwei Obdachlose | Werbeagentur, Pfalz, Vorgesetzter | Bus, Mainz, sehr dicke Frau, junger Mann | Weinhandlung, Mainz, Kollegen.

Christine Goßkinsky schummelt sich nicht literarisch aus den Ebenen des Alltag hinaus, sondern seziert ihn und operiert eine Szene heraus, die zu einer Sache gehört.  Die Poesie steckt im Detail. Die Sache ist das Ding in der Mitte, jeder geht um es herum und sieht nur seine jeweils zugewandte Seite, oft genug auf unfreiwillig komische Art. Man muß nicht bösartig und sonderlich zynisch sein, um zu erkennen wie heruntergekommen, platt und klischiert unsere Alltagswelt geworden ist. Sie steckt voller Wunder, die niemand sieht. Gerade durch Spiegel, wie sie uns Großkinsky vorhält, merken wir, wie verhaftet die Menschen in Wahrheit sind. Jeder läuft mit unsichtbaren Handschellen herum und die Art, wie man sich den Dingen widmet ist eine rudimentäre. Ob es der Suff ist, der einem pöbelnden Mann im Bus im Kopf dumpfe Parolen losseilt, gespielte Naivität, die über den fehlenden Mut zum richtigen Blick hinwegtäuschen will, ob es Platitüden sind, die man vor sich herschiebt wie Schneeschaufeln oder Klischees, die man freiwillig abfeiert, um wenigstens in irgendeine der Welten zu gehören – all das findet man in diesen kleinen Alltagsdramen wieder und es sind ja tatsächlich diese Dramen, die unsere Gesellschaft in der breiten Masse abbilden und vor deren "Normalität" unsere Gesellschaft inzwischen resigniert hat.

Derbe und drastische Beispiele  finden wir  nicht in „Holmenkolmen“, aber die Erkenntnis, daß der Alltag uns, wenn wir uns die Zeit nehmen, ihn in Ruhe zu betrachten,  bereits in kleinsten Einheiten Abbilder größerer Kontexte liefert, vielfach komisch, manchmal valentinesk, volkstheaterhaft, bisweilen dadaistisch und auch mal unfreiwillig à la Beckett, auf eine besondere Weise immer markant und beispielhaft. „Die Doppelseite wird zur Guckkastenbühne, das Buch zum Theater des Realen“ sagt der Pressetext treffend.

„Holmenkolmen“ ist in Eric Erfurths Logo-Verlag erschienen, wo es weitere im Äußeren meist unscheinbare, aber hochklassige Literatur zu entdecken gibt. Der zurückgenommene Auftritt ist dabei Programm und er passt zu den Werken bspw. von Kurt Schwitters, Marcel Duchamp, Ernst Jandl, Christine Großkinsky oder Ulrich Namislow, die sich jeweils mit kargem aber intelligent passendem Logo auf dem Buchtitel präsentieren und hoffentlich dennoch viele interessierte Leser finden.

Christine Großkinsky
Holmenkolmen
LOGO
2000 · 160 Seiten
ISBN:
978-3-980308762

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