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Kritik

Die Kette von Ethel mit Fatimas Hand

Claire Hajajs betörender Roman Ismaels Orangen über eine jüdisch-palästinensische Familie
Hamburg

Nur zwei Tage brauchte ich, um die mehr als vierhundert Seiten zu lesen. Schon der Brief, mit dem der Roman beginnt, hat mich in die Geschichte hineingezogen, auch wenn man natürlich nicht genau versteht, was ein gewisser Marc 1988 der „geliebten Sophie“ mitteilen möchte. Aber der Leser spürt die Verzweiflung in diesen Zeilen und gleichzeitig eine große Trauer über etwas, das unwiederbringlich und vielleicht unnötigerweise verloren zu sein scheint.

All die Dinge, die ich an ihm hätte lieben können und die ich weiter geliebt habe, selbst nachdem er mich weggeworfen hat.

Der Brief, der am Anfang steht, ist gleichzeitig der Schluss. Marc befindet sich vor dem Haus seines Vaters Salim Al-Ismaeli. Eigentlich sollte er diesen Ort hassen, schreibt er Sophie, seiner Schwester, aber Es ist wirklich genau wie auf dem Bild. Weiß. So weiß wie ein Knochen. Hinter dem Tor wachsen Bäume, und der Staub schimmert wie Gold.

Während Marc diesen Brief schreibt, kämpft sein Vater Salim gerade mit den israelischen Behörden um die Rückgabe dieses Hauses, aus dem seine Familie vor vierzig Jahren bei der „Nakba“, also der Vertreibung der arabischen Palästinenser aus dem britischen Mandatsgebiet, flüchten musste. „Nakba“ bedeutet Katastrophe und tatsächlich wird die Rückkehr in dieses das Haus mit seinen Orangenbäumen für Salim irgendwann wichtiger als seine Familie, was für die eine Katastrophe auslöst.

Doch der Reihe nach. 1948 ist Salim sieben Jahre alt. Er besitzt einen Orangenbaum, in den er seinen Namen schnitzt. Als er mit seinen Eltern und zwei Brüdern aus Jaffa fliehen musste, erscheint ihm dies wie die Vertreibung aus dem Paradies, einem Ort, den er sein Leben lang suchen wird. Mit zwanzig Jahren gelingt es ihm, zum Studium nach Großbritannien auszuwandern, wo er sich in London 1967, im „Summer of Love“, in die jüdische Studentin Judith, genannt Jude, verliebt. Auch Judes Familie hat ihre Heimat verloren. Ihre Großeltern stammen aus dem Osten, von wo sie erst vor russischen Pogromen und dann vor den Nazis fliehen mussten.
Wohl wissend, dass ihre jeweiligen Familien ihre Verbindung nicht gutheißen würden, halten Salim und Jude diese vorerst geheim. So sagt Salims Bruder Hassan, der ebenfalls in London lebt: Jedenfalls ist jetzt kein guter Zeitpunkt, um eine Jüdin nach Hause zu bringen, während ein Verwandter Judes behauptet, der Sinai gehöre sowieso den Juden.

Es ist das Land unserer Vorfahren, ein Geschenk Gottes. Eigentlich kann sich ein Mensch, der nicht daran glaubt, nicht ruhigen Gewissens als Jude bezeichnen.

Aber auch Jude und Salim selbst können sich nicht von ihrer Zugehörigkeit freimachen. Jude schlägt vor, zusammen nach Israel in den Kibbuz ihres Onkels Max zu fahren, um ihren Verwandten zu beweisen, dass wir nicht auf der einen oder anderen Seite stehen. Salim lehnt diesen Vorschlag brüsk ab.

„Wie kannst du nur auf so einen Gedanken kommen, Jude?“ Die Worte klangen wie eine Ohrfeige. „Ich wurde aus meinem Zuhause vertrieben und bin nie wieder dort gewesen. Und nun verlangst du von mir, dass ich mit einer Jüdin dorthin zurückkehre? Dass ich bei Zionisten wohne? Bist du von allen guten Geistern verlassen?“

Salim flüchtet sich zu seinem Bruder Rafan nach Beirut, der sich im Umfeld der PLO bewegt. Doch bald merkt er, dass dies nicht seine Welt ist, fliegt zurück nach London, Jude und Salim heiraten und im nächsten Kapitel und einige Jahre später befinden sie sich mit ihren kleinen Kindern Sophie und Marc, einem Zwillingspärchen, in Kuwait. Aber auch hier kommt die Familie nicht zur Ruhe. In Kuwait sind Juden besonders verhasst, so dass Jude ihre jüdische Abstammung verbergen muss. Salim arbeitet bei einer amerikanischen Firma, erhält aber als Palästinenser letztlich nicht die Anerkennung, die ihm auf Grund seiner Leistungen zustehen würde. Dies verstärkt seine Minderwertigkeitskomplexe. Er flüchtet sich in die Vorstellung, er wäre ein angesehener Farmer geworden, wenn er nicht von seinem Orangenhain und aus seinem Haus vertrieben worden wäre. Unbewusst gibt er dafür auch Jude die Schuld. Seine Unzufriedenheit macht ihn anfällig für Einflüsterungen arabischer Freunde und seines radikalen Bruders Rafan. Er schickt die Kinder zum Arabischunterricht und verlangt von Jude, sie in seinem Sinne zu erziehen. Jude wiederum zündet mit ihnen heimlich den Chanukka-Leuchter an und lehrt sie jüdische Gebete.

Als Rafan Salim in seine zwielichtigen Unternehmungen hineinzieht, bekommt Jude Angst und fliegt heimlich mit den Kindern zurück nach London.

Claire Hajaj ist es mit ihrer Familiengeschichte gelungen, ein realistisches Bild der schwierigen Beziehungen zwischen Juden und Palästinensern zu schildern. Alle kommen zu Wort, nicht nur die beiden Protagonisten und ihre Kinder, auch das Leben der jeweiligen Familien wird sehr einfühlsam mit all seinen Verletzungen geschildert. Hier das Traumata des Holocaust, dort das der Vertreibung aus dem eigenen Land. Die Autorin weiß genau, wovon sie spricht, denn eigentlich ist es ihre eigene Familiengeschichte, die sie erzählt. Denn sie hat selbst eine jüdische Mutter und einen palästinensischen Vater, kennt also die Probleme einer gemischten Ehe aus eigener Erfahrung.

Zwar wird im Impressum darauf hingewiesen, dass der Roman eine fiktive Geschichte mit erfundenen Personen sei, aber – wie die Autorin in Interviews selbst sagt- so ganz wörtlich braucht man diese Erklärung in diesem Fall nicht zu nehmen. Zu ähnlich sind einige Passagen mit ihrer wirklichen Lebensgeschichte. Dies zeigt sich sogar an Kleinigkeiten. So wie im Roman Jude von ihrer Großmutter, die hier Rebecca heißt, eine Kette geschenkt bekommt, die sie mit einer von ihrem arabischen Ehemann kombiniert, hängt Claire Hajaj in Wirklichkeit den Anhänger ihrer arabischen Großmutter an die Kette, die sie von ihrer jüdischen geschenkt bekommen hat. Auch die Ehe ihrer Eltern wurde letztlich geschieden und die Autorin fragte sich oft, weshalb ihre Eltern trotz der abzusehenden Schwierigkeiten geheiratet hätten. „Ich glaube“, so meint sie, „es gibt eine tiefe Sehnsucht in uns Menschen, die Grenzen zu überschreiten, innerhalb derer wir geboren werden und uns ein eigenes selbstbewusstes Leben zu schaffen.“ Ein Satz, den sinngemäß auch ihre Protagonistin so formuliert.

Heute lebt Claire Hajaj mit ihrer Familie im Libanon. Sie habe den Roman für ihre Tochter geschrieben, sagt sie, damit diese wisse, wer sie sei. Und: „Araber und Juden sind nicht zur Feindschaft verurteilt. Ich glaube, dass immer mehr Menschen beginnen, Brücken zu bauen und nicht alles der Politik überlassen. Ich hoffe, dass mein Buch ein Baustein in so einer Brücke sein wird, die eines Tages mehr Menschen verbindet.“

Claire Hajaj
Ismaels Orangen
Aus dem Englischen von Karin Dufner
Blanvalet bei Randomhouse
2015 · 448 Seiten · 19,99 Euro
ISBN:
978-3-7645-0516-5

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