Vom Sinn zu den Sinnen
Die vier Vorträge, die Claude Simon zwischen 1980 und 1993 gehalten hat, konzentrieren sich im wesentlichen auf die Bedeutung, die er Beschreibung und Erinnerung für das "Herstellen“ von Literatur beimisst, also auf diejenigen Elemente, die auch für Simons Schreiben von zentraler Bedeutung waren.
Ausgangspunkt der ersten Überlegungen und Erläuterungen ist eine Szene aus Prousts Roman „Im Schatten junger Mädchenblüte“. Eine Beschreibung, die Simon zufolge, „auf dynamische Weise funktioniert und selbst Handlung ist.“
Simon definiert die Beschreibung als „die Übertragung eines Gegenstandes aus seiner normalen Wahrnehmung in die Sphäre einer neuen Wahrnehmung.“
Die Beschreibung hat die Funktion, der Enttäuschung durch die Konfrontation mit der Wirklichkeit zu trotzen. Sie wird zum Gegengift, zu einem Fluchtpunkt, an dem sich die Beobachtung erneut in Fantasie und Vorstellung verwandeln kann. Simon zeigt, wie der von ihm zitierten Beschreibung vor dem Hintergrund ihrer Funktion, die Überzeugung Prousts zugrunde liegt: „Die sichtbare Welt [...], die im übrigen nicht die wahre Welt ist, da unsere Sinne über kaum bessere Fähigkeiten verfügen als unsere Einbildungskraft, die Wirklichkeit richtig zu treffen, so dass die doch nur annähernde Anschauung, die wir von ihr erhalten können, mindestens ebenso stark von der Welt, die wir sehen, abweicht, wie diese von der unserer Imagination.“
Für Proust, schreibt Simon, „sind also die Namen wie Grußformen der Ideen“.
Der Satz, die zitierte Beschreibung, beweist, dass „die Wirklichkeit der Sprache wirklicher ist als das „Wirkliche.“ Dem, was uns in der Realität enttäuscht, wird ein durch Sprache erfundener Ersatz entgegen gesetzt.
Simon weist nach, wie die zitierte Beschreibung ein Netz von Beziehungen spinnt, einer Architektur folgt, die sehr weitreichend ist, so dass er schließlich zu dem Schluss kommt, dass bei Proust die Beschreibung die Rolle übernimmt, die bisher der Handlung zukam. „Sie ist es, die jetzt „funktioniert“, arbeitet, handelt.“
Für derartige Veränderungen lehnt Simon den Begriff „Fortschritt“ ab. „Jede Epoche hat ihre Moderne, und die Geschichte der Kunst besteht aus einer Reihe von Innovationen, die immer nur ein „anders“ einführen, in keinem Fall ein „besser“.
Statt von „Fortschritt“ spricht Simon von „Entwicklung“. Bei dieser Entwicklung sieht er Parallelen zwischen bildender Kunst und Malerei. Sowohl Malerei als auch Literatur haben sich von anschaulichen, lehrhaften Ansätzen zu einer Konzentration auf das eigentliche Medium hin bewegt. Es hat eine Entwicklung von der Abbildung der sogenannten Realität hin zum Mut eine Idee auszudrücken stattgefunden.
Dem „Vorwurf“ der Diskontinuität und Fragmentierung als Merkmal der Moderne setzt Simon seine Beobachtung entgegen, dass es lediglich Kunstgriffe sind, die die Illusion einer Totalität erzeugen. Beim Roman besteht dieser Kunstgriff daraus „das ganze Gewicht auf die Handlung zu legen.“
Mit einem Zitat Mallarmés folgert Simon: sowohl die Zeichnungen, Gemälde von scheinbar realistischen Gegenständen, als auch der Roman sind „ganz Idee und lieblich, die allen Sträußen fehlende.“
Schreiben, das wird in jedem der Vorträge deutlich, ist für Simon „Dinge zu fabrizieren (zu produzieren), die in der sogenannten realen Welt nicht existieren und dennoch mit ihr in Beziehung stehen...“ Insofern ist Schreiben immer auch „binden“, als das in Beziehung setzen von Phänomenen. Allerdings sollten die Beziehungen laut Simon nicht durch Logik und Kausalität hergestellt werden. Vehement spricht er sich gegen die Eindimensionalität der Charaktere in Romanen wie „Madame Bovary“ aus. Hier sieht Simon eine lediglich behauptete (konstruierte) Zwangsläufigkeit, der er die sinnlich nachvollziehbaren Notwendigkeiten entgegengestellt, die er in Dostojewskis und Prousts Romanen findet.
Für die Entwicklung des Romans stellt er fest, dass an die Stelle der „Kausalität“ die „Qualität“ getreten ist. Im Laufe dieser Umwälzung hat die Beschreibung immer mehr an Bedeutung gewonnen.
Nicht das warum von Handlungen, das Herstellen von plausiblen Kausalitäten zählt, vielmehr kommt es auf das wie an, auf die Art, wie auch vollkommen disparate Dinge sinnlich nachvollziehbar verbunden werden.
Die Sinne treten an die Stelle von Sinn.
Die Sprache betrachtet Simon in Anlehnung an Lacan als „Bedeutungsknoten“, Schreiben ist für ihn nicht zuletzt der Versuch, die Fäden dieses Knotens zu entwirren, für sich und andere sichtbar und nachvollziehbar zu machen.
Auch bei der Frage, welche Bedeutung Gedächtnis und Erinnerung für das, was wir schreiben, einnehmen, kommt Simon auf seine Ablehnung gegenüber dem Realismus zurück: „Die sogenannten realistischen Darstellungen sind lediglich diejenigen, die sich der Konvention fügen und getreulich das wiedergeben, was unsere Konditionierung zu sehen uns weismacht. Aber dass dies das Wirkliche ist, ist falsch.“
Vor diesem Hintergrund ist Schreiben auch der unermüdliche Versuch von den überlieferten Perspektiven abzusehen, um überhaupt die Möglichkeit zu erhalten, etwas abseits der vorgefertigten Muster und also wirklich und wahrhaftig wahrzunehmen.
Fixpoetry 2014
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben