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Kritik

Die Schrecken des Eises am Everest

Hamburg

Im Juni 1924 versuchten der britische Bergsteiger George Mallory und sein Begleiter Andrew Irvine, den Gipfel des Mount Everest zu bezwingen. Der letzte, der die beiden lebend sah, war der Geologe Noel Odell. Er erblickte sie am 8. Juni auf dem Nordsattel, nur noch wenige hundert Meter vom Gipfel entfernt. Dann verschwanden sie. Ihre Leichen wurden erst 1999 gefunden. Ob sie bereits beim Aufstieg abstürzten oder nach erfolgreicher Gipfelbesteigung beim Abstieg, ist bis heute nicht geklärt.

Des Rätsels nimmt sich Dan Simmons in seinem jüngst erschienenen Roman „Der Berg“ (Heyne, München 2014) an. Er schickt ihnen eine fiktive Expedition um den Briten Richard Davis Deacon, den Amerikaner Jake Perry und den Franzosen Jean-Claude Clairoux hinterher, die am Matterhorn von Mallorys eisigem Tod erfahren. Deacon hatte bereits an der Everest-Expedition von 1922 teilgenommen und sich fest in den Kopf gesetzt, den Gipfel zu erreichen. Als die britische Adlige Lady Bromley eine Suchexpedition nach ihrem ebenfalls am Everest verschollenen Sohn Percy Bromley finanzieren will, sieht Deacon seine Chance. Die Vorbereitungen führen das Trio quer durch Europa, bis sie in Tibet auf die Organisatoren der Suche treffen, die Lady Bromley benannt hat. Dass es sich bei Dr. Pasang um einen indischen Arzt und bei der Person, die die Expedition leiten soll, um eine Frau handelt, trägt nicht unbedingt dazu bei, dass Deacons Stimmung sich hebt. Doch die Vorbehalte schwinden rasch in den eisigen Flanken des Berges, als sich eine Schicksalsgemeinschaft ergibt, die ums Überleben in acht Kilometern Höhe kämpft. Und dass hinter der Suche nach Percy Bromley mehr steckt als die Bergung eines Verunglückten, das deutet sich bereits an, als Deacon und Perry in einem Münchener Bierkeller den deutschen Alpinisten und Nationalsozialisten Sigl befragen, der Bromley als letzter lebend gesehen hatte.

Wie von ihm gewohnt erweist sich Simmons als ein Autor, der sich bis ins kleinste Detail in sein Thema vertieft und akribisch recherchiert – so akribisch, dass mancher „investigative“ Journalist blass werden dürfte. Es ist mehr als eine Dreingabe, dass er nicht nur einen trotz seiner fast 800 Seiten kurzweiligen und spannenden historischen Roman geschrieben hat, sondern es ihm auch noch gelingt, all die recht trockenen Fakten rund ums Bergsteigen, die Funktionalität damaliger Steigeisen, Sauerstoffflaschen und Daunenjacken und dergleichen mehr, dem Leser nahezubringen ohne ihn dabei auch nur eine Sekunde zu langweilen. Er lässt das Europa kurz nach dem Weltkrieg mit all seinen politisch-gesellschaftlichen Verwerfungen lebendig werden, und nimmt den Leser mit auf die rutschigen und holprigen Pfade des Berges, zieht ihn hinein in den klirrend kalten Wind und in die Zelte im Lager VI auf über 7000 Metern, in denen man mit den Füßen buchstäblich über dem Abgrund hängt.

Es ist nicht das erste Mal, dass Simmons sich ein reales, rätselhaftes historisches Ereignis vornimmt und es fiktional weiterspinnt. 2007 hat er mit dem Roman „Terror“ um die Arktis-Expedition von Franklin und Crozier sein bisheriges Meisterwerk geschaffen, indem er aus dem Drama der bis heute im Eis verschollenen Schiffe eine grandiose Hommage an Edgar Allan Poe geflochten hat. Darauf folgte das Dickens-Schelmenstück „Drood“ um das Rätsel von Dickens' letztem, unvollendetem Buch. Mit „Der Berg“ wagt er sich wieder in eisige Gefilde, und was der „Stern“ schon über „Terror“ geschrieben hatte, trifft auch diesmal zu: „Schon nach zehn Seiten beginnt man unweigerlich zu frieren.“

Dan Simmons
Der Berg
Aus dem Amerikanischen von Friedrich Mader
Heyne, Random House
2014 · 768 Seiten · 24,99 Euro
ISBN:
978-3-453-26896-8

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