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Kritik

Möglichkeitssinn: Thouard zum Verstehen

Hamburg

Ein unauffällig gewaltsamer Akt ist es, sich verständlich zu machen – herrschaftsfreier Diskurs, wie in Habermas träumt, hin oder her: Wer sich verständlich macht, will zum „Verstehen zwingen”. Diesen und anderen aufregenden, düsteren, inspirierenden Seiten dessen, was Philosophie sei, widmet sich Denis Thouard in seinem neuen Band Geteilte Ideen.

Nun sind diese Ironien so grundsätzlich zu unterscheiden von jenen der Macht, wie Sokrates’ Ironie, die Vorläufer heutiger Proponenten unmündiger Kompetenz als myops heimzusuchen und ihre Patentrezepte und total(itär)en Wissensformationen lokal, situationistisch, interventionistisch und darum werklos heimzusuchen, sich von der Ironie dieser Proponenten unterscheidet, dann die Vermessung und Verwaltung der Kompetenz entweder maliziös oder doch einfach dumm Sokrates zu benennen… Man kann, so auch Avital Ronell und Slavoj Žižek, gar nicht so obszön sein, wie es die Macht ist 1, der man darum übrigens vielleicht nicht glauben sollte, daß sie mächtig ist.

Zurück zu Thouard, falls ihn dieses Mäandern verließ, der Philosoph, so sagt er, spricht, vielleicht „predigt” er, doch er ist sich „grundsätzlich nicht sicher”, darüber zu wissen, wovon er spricht: „suchendes […] Ziel”. Dabei aber muß er alle adressieren, universalistisch, aber vor allem auch im Sinne der Populärphilosophie, Sokrates sprach zu den Athenern, nicht zur upper class oder zu Experten, wenngleich vor den Athenern mit diesen Kreisen. „Populärphilosophie spiegelt […] die Plattheit des Alltäglichen wider”, aber eben nur, wenn man nicht aufpaßt: Denn dann erst wird das sogenannte Alltägliche platt, wie dann eben die Philosophie, die populär ist, eher populistisch ist.

Populärphilosophie würde in der Folge wie gesagt zum „Verstehen zwingen”, mit einer „im Zeichen der Klarheit stehenden negativen Rhetorik”, verständlich, entkernt fast, aber vielleicht auch klar machen, daß Verstehen nicht Einverständnis meint, Evidenz in ihrer Macht also zugleich limitiert ist. Nicht begrenzt wäre diese Freiheit, was Thouard so ausdrückt: „Niemand ist frei, wenn es nicht alle sind.”

Das meint schließlich, daß just die Form doch etabliert oder rehabilitiert wird, „individuell wie individualisierend”, eben als Freiheit – dann auch der anderen Denkens, glückend, wo sie eine Alternative zu verstehen zwingt, gewissermaßen. So entsteht – oder entstünde – Dialog:

„Ein Dialog ist eine Kette, oder ein Kranz von Fragmenten. Ein Briefwechsel ist ein Dialog in vergrößertem Maßstabe, und Memorabilien sind ein System von Fragmenten. Es gibt noch keins was in Stoff und Form fragmentarisch, zugleich ganz subjektiv und individuell, und ganz objektiv und wie ein notwendiger Teil im System aller Wissenschaften wäre.”

Spätestens an diesem Punkt versteht sich, daß Thouard auf diskrete, unauffällige Weise ein Revolutionär ist, der für das eintritt, worauf es ankommen könnte: Dialog, Ironie und ein Verstehen, das offen bleibt – offen hält, was ihm vorgetragen wird.

Pflichtlektüre, inklusive möglicher Einsprüche!

Denis Thouard
Geteilte Ideen
Philosophische Versuche, den Leser zum Verstehen zu bringen
Übersetzung: Ulrich Kunzmann
Matthes & Seitz
2016 · 187 Seiten · 25,00 Euro
ISBN:
978-3-95757-264-6

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