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Kritik

Auf der Suche nach einem transzendentalen Autismus

Hamburg

Überlegungen zu der Poetik von Dimitris Lyacos anlässlich   der deutschen Übersetzung seines Buches „Der erste Tod. Poena Damni1

Die Fragen, die während der Lektüre von „Der Erste Tod – Poena Damni“ beim Leser aufkommen, lauten: Braucht dieses Buch wirklich einen Leser? Ist die Dichtung immer das Produkt einer kommunikativen Tat? Oder könnte, falls das Schreiben ein Prozess der Widerspiegelung einer Selbstentfremdung ist, das Gegenteil gelten?

Der Schreibende in diesem Buch drückt nicht aus, was er unter anderen Umständen sagen würde. Bei ihm geht es eher um ein nichts-sagen-könnendes Wesen; er ist ein Wrack mit zerstörtem Mund, dem das Sprechen-Können enteignet worden ist. Beim Schreiben geht es also hier nicht um einen Akt des Äußerns, sondern um das Werk einer zentripetalen Kraft, die die ganze Welt der Erscheinungen nach dem Ich zieht. Man bekommt beim Lesen den Eindruck, dass dieses Wrack alles einschluckt, ohne es assimilieren zu können, weil ihm eine Identität fehlt, weil er das Überbleibsel eines Leibes ist, der einst aus irgendeinem KZ oder Gefängnis bzw. Krankenhaus ausgebrochen ist, oder durch Lösegeld befreit wurde. Was hier vor uns als Identität aus Licht tritt, ist die absolute Identität einer zerstückelten Leiblichkeit, und was als Recht zum Reden und Schreiben fungieren könnte aber letztendlich nicht kann, ist eine Art Imputation durch Amputation, ein Anspruch auf Zurechungsfähigkeit eines sich zu rekonstruierenden Körpers, der sich als solcher wieder erkennen und selbst behaupten will.

Wer ist aber der Schreibende? Schon im ersten Buch der Trilogie Poena Damni, Z213 Exodus ist kann man zwischen dem Ich-Erzähler und dem Beobachter des Fluchtprozesses zu unterscheiden. Im zweiten Buch Mit den Menschen von der Brücke gibt es eine vierstimmige Erzählung. Der Weg vom zweiten zum dritten Buch, in dem die vier Stimmen zu einer werden, erscheint wie eine Art von Implosion, und der Gang des dritten Buches ist explosiv: man hat den Eindruck, jedes Leibstück spricht für sich. Wir sind also nicht sicher, ob das dritte Buch, Der erste Tod dem Ich-Erzähler des Exodusbuches gehört oder nicht. Der erste Tod erscheint im Z213 Exodus als heiliger Befund in den Händen des Flüchtlings, der da die Rolle des Ich-Erzählers hat. Dieses gefundene Tagebuch eines Krüppels ist Indiz der Kreisförmigkeit der Zeit, die das Ich erlebt, weil sein Dasein zwischen Erinnerung und Prophezeiung pendelt. Die Insel, auf der sich jetzt der Krüppel befindet, ist vielleicht der Ort, aus dem er ausgebrochen ist, aber es ist nicht auszuschließen, dass es dabei um den Ort seiner endgültigen Destination geht.

Was sich in allen vierzehn Kapiteln des Ersten Todes als autistische Stereotypie wiederholt, ist die unaussprechliche Situation der fürchterlichen Einsamkeit eines zerstückelten Leibes. Man hat den Eindruck, die schreiartigen Wörter aus verschiedenen Körperteilen herauskommen. Die natürliche Umgebung ist nicht natürlich: „Das Meer stählern. Der Mond schweigsam wie ein Schmerz in der Tiefe des Geistes.“ (I) – Die Worte Woyzecks nach dem Mord an Marie klingen hier so intim: „Der Mond ist wie ein blutig Eisen.“ – Wer sagt das? Jemand, der nicht reden kann: jemand ohne linken Arm, ohne rechte Hand, ohne Füße, ohne Mund: „Vom zerstörten Mund blieb nur eine Wunde ...“ (I) Ist er ein Verbrecher, wie Woyzeck? Ist vielleicht die Flucht sein einziges Verbrechen? Ist seine Flucht eine Exkommunikation im eigentlichen, etymologischen Sinne? Seine verkrampfte Rede ist wie ein Gebet einer unbekannten, uralten oder individuellen Religion. Was soll diese „Rückkehr eines zerstückelten Körpers im Frühjahr“ (II) sein? Was ist dieser „Küstenaltar“ und was sind diese „Reste des Opfers“ (IX)?2

Dabei geht es um den Kern des tragischen Bewusstseins der Griechen. Der tragische Held par excellence ist der Verbannte. Das Exil ist die Hölle; der Ort, in dem die Religion kein Hilfsmittel sein kann. Das religiöse Gefühl hat einen Sinn nur im Rahmen der Gemeinde, im Rahmen der völligen Einsamkeit ist es nichts als ein verkrampfter Schrei; ein Urschrei.

Reden ist hier kein Akt des Schreibenden. Reden fungiert hier zwischen Versuch und Versuchung. „Tote Kinnladen ... zerbrochene Zähne“ (III), „der üble Geruch des schweigenden Herzens“, der „bis zum Mund emporsteigt“. (VI). Gäbe es einen Mund, wäre die „Kehle verstopft mit Weinstein und Schleim“ (IX) und es gibt auch einen „Maulkorb“ (X). Der einzige Akt des Mundes ist „Schwefel ausspucken3 und „keuchen“. (X) Das einzige Recht des Mundes ist ein „heiliges, freigekauftes Schweigen“. (XII) Das Rederecht (das lässt uns der Krüppel glauben) ist einem anderen, oder dem Anderen, abgetreten.

Was der Leib fühlt, ist ein „Halseisen aus Muscheln“, und die Körper selbst sind „leer“. (XII) Kann es also einen oder den Anderen geben? Nein. Die Präsenz des Krüppels ist ein schwarzes Loch, das alles einsaugt, sie ist eine offene Funktion, ein geometrischer oder rhetorischer Topos, in dem sich eine private Sprache verwirklicht. Die zentripetale Kraft aller Körperteile ist enorm; sie liegt „im blutgetränkten Takelwerk des Gehirns“, in dem „der Ausschachter-Schmerz unnachgiebig ausgräbt“. (VII) Es geht um ein echt autistisches Verhalten. Es gibt keinen Zugang zum Anderen; „der Platz“ ist „ohne Pfade, und wir warfen den Anker in unsere Innereien“, (VIII) der Krüppel hat „das Wissen, dass alle in dir ertrunken sind“ (IV). Der Andere ist „in der Krypta, wo du keine Ortsmöglichkeit hast“ (XIII), und die einzige Stimme, die gehört wird, ist die „von einem uniformierten Rachegeist“. (XIII)4

 Eine Art zentrifugaler Bewegung wird erst in Kapitel XIV. spürbar. Da ist die Rede vom „langsamen Aufstieg des Schiffes in die Lücke“ und von einer „Vorahnung einer Überschreitung“, von einer Transzendenz; man fragt sich: Wohin? Wir lesen: „... und doch / werde ich gerettet, nicht in der Welt / noch außerhalb davon, sondern an der nicht vorhandenen Stelle des Zusammenstoßes / und der Abhebung der Welt, dort wo der Schrei empfangen wird / übernimmt die Kurbel / und die Räder / stoßen instinktiv / den Rollstuhl ins Unendliche“. Einen eigentlichen Ort der Erlösung, diesseits oder jenseits, gibt es nicht. Der Schreibende bleibt eingekapselt, „bereut in unverständlicher Sprache“, und sein Leben ist nichts als „eine Tragödie, die gelassen umherreist“.

Seine Ich-Bestätigung entsteht nicht durch die Anerkennung durch einen anderen oder vom Anderen. Wenn eine unverständliche Sprache auf die Vorbühne tritt, ist eine solche Option vom Anfang an gescheitert. Wie ist also seine Existenz zu legitimieren? Der Prozess ist der Weg zur absoluten Bejahung seiner zerteilten Leiblichkeit, die durch seine mentale Selbstaufhebung zustande kommt. Der Krüppel taucht immer tiefer in sein verhunztes, übrig gebliebenes Ich. Auf der Suche nach dem Ur-Schmerz, nach dem Ur-Schrei, letztendlich nach dem Ur-Ich verklärt er sich in einem Punkt, von dem aus alles angeschaut, aber nichts erkannt und verstanden werden kann. Durch diese Reise ins Unendliche, d.h. ins Unverständliche, ins Ich auf dem Rollstuhl wird sein narzisstisches, autistisches, solipsistisches Wesen gerechtfertigt werden. Es geht um eine zeitliche Reise nach hinten, vor der Lacanschen Spiegelstufe. Die Insel des Krüppels ist eine Insel ohne Spiegel. Den Anderen gibt es nicht, auch nicht in der Form eines Spiegelbildes, wodurch eine Ich-Bildung im Sinne der vorgreifenden Identifizierung mit seinem eigenen Bild zustande kommen könnte. Die Welt des Krüppels ist die Welt seiner zerstückelten Glieder und seine Sprache ist eine schon verlernte, privat gewordene Sprache, durch die für ihn keine Art von Transzendenz und Kommunikation möglich ist. Dürfen wir unsere Lektüre des Buches als Transzendenz im Sinne eines Schopenhauerschen Mitleids verstehen? Sind wir unsererseits legitimiert, eine private Sprache zu entziffern, ohne dass dadurch die Rechte des autistischen Krüppels verletzt werden? Oder wäre eine solche Entzifferung ein echtes Stück Mystik?

Ich würde eindeutig mit Ja antworten. Auch die Anspielung auf eine bacchantischen Gemeinde im Kapitel XIII. eröffnet keine Perspektive für irgendeine echte Kommunikation des Krüppels frei. Er ist entpersonifiziert, im Sinne einer schizoiden Erscheinung, worden. Die Fragmentierung seines eigenen Leibes entspricht der Fragmentierung seines Ich, und falls der Lacansche Spiegel existieren würde, würde es um einen zerbrochenen gehen, dessen Bruchstücke wiederum die Teile des Leibes widerspiegeln würden. Eine symbolische Ordnung gibt es für den Krüppel nicht. Der Zugang zum Ding, zum reinen Wollen,5 ist frei. Aber was will er eigentlich anderes als sich selbst? Die Phase vor dem Spiegel nach Lacan, entspricht der Phase des Autismus nach Piaget, d.h. des extremen Egozentrismus des Kindes. Das Ding, das der Krüppel angeschaut hat, und von dem er nicht hinaus kann, ist der zerstückelte Leib. (Ist er ein Opfer der Gefährtinnen des Bacchus?) Die Hölle besteht nicht in der Existenz der Anderen. Die Hölle bin Ich! schreit der Krüppel. Die Suche nach einem transzendentalen Autismus ist also unsere Arbeit. Dabei geht es nicht um eine Kommunikation im Rahmen der symbolischen Ordnung, sondern um den freiwilligen Übergang in die Welt des Realen. Willkommen zu meiner Hölle! würde der Krüppel jetzt schreien. Mystik als Weg zum zweiten Tod?

  • 1. Beim Ausdruck Erster Tod, der in der Bibel nicht zu finden ist, geht es um den irdischen, leiblichen Tod, den alle Menschen erleiden müssen. Der Ausdruck Zweiter Tod erscheint in der Offenbarung des Johannes [Αποκάλυψις Ιωάννου]. Dabei geht es um den endgültigen Tod der Seele nach dem Jüngsten Gericht: „Und das Meer gab die Toten heraus, die in ihm waren; und der Tod und die Unterwelt gaben ihre Toten heraus, die in ihnen waren. Sie wurden gerichtet, jeder nach seinen Werken. Der Tod und die Unterwelt aber wurden in den Feuersee geworfen. Das ist der zweite Tod: der Feuersee. Wer nicht im Buch des Lebens verzeichnet war, wurde in den Feuersee geworfen.“ [Και έδωκεν η θάλασσα τους νεκρούς τους εν αυτή, και ο θάνατος και ο άδης έδωκαν τους νεκρούς τους εν αυτοίς, και εκρίθησαν έκαστος κατά τα έργα αυτών. Και ο θάνατος και ο άδης εβλήθησαν εις την λίμνην του πυρός. Ούτος ο θάνατος ο δεύτερός εστιν. Και ει τις ουχ ευρέθη εν τη βίβλω της ζωής γεγραμμένος, εβλήθη εις την λίμνην του πυρός.] (20. 14) „Aber die Feiglinge und Treulosen, die Befleckten, die Mörder und Unzüchtigen, die Zauberer, Götzendiener und alle Lügner – ihr Los wird der See von brennendem Schwefel sein. Dies ist der zweite Tod.“ [Τοις δε δειλοίς και απίστοις και εβδελυγμένοις και φονεύσι και πόρνοις και φαρμακοίς και ειδωλολάτραις και πάσι τοις ψευδέσι το μέρος αυτών εν τη λίμνη τη καιομένη πυρί και θείω, ο έστιν ο θάνατος ο δεύτερος.] (21. 8) Der Ausdruck poena damni bedeutet die völlige und endgültige Unmöglichkeit des Bestraften, den Gott anschauen zu können; er bedeutet die völlige Abwesenheit Gottes im Gegensatz zu poena sensus, die durch das Leiden in der Hölle oder in Purgatorium markiert wird. Die poena damni ist also die eigentliche Strafe des Sündigen. Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, 1.2.87.4 und 2.2.79.4 und Dante Alighieri, La Divina Commedia, Inferno, Canto 28.
  • 2.

    Ich bin versucht, in der Synthese von Lyacos eine expressionistische Variation über ein romantisches Thema zu sehen.
    Vgl. P.B. Shelley (1792-1822), Alastor, ort he spirit of solitude (1815):

    There was a Poet whose untimely tomb
    No human hands with pious reverence reared,
    But the charmed eddies of autumnal winds
    Built o’er his mouldering bones a pyramid
    Of mouldering leaves in the waste wilderness;
    A lovely youth, –no mourning maiden decked
    With weeping flowers, or votive cypress wreath,
    The lone couch of his everlasting sleep:
    Gentle, and brave, and generous, no lorn bard
    Breathed o’er his dark fate one melodious sigh:
    He lived, he died, he sang in solitude.

  • 3. Ist vielleicht der Krüppel schon im „See vom brennendem Schwefel“ (Joh., Offenbarung, 21.8) gewesen? (Vgl. Anm. 1.)
  • 4. Gemeint ist Alastor (Αλάστωρ), der nie vergessende Dämon des Hauses in der griechischen Tragödie
  • 5. Die Theile des Leibes müssen ... den Hauptbegehrungen, durch welche der Wille sich manifestiert, vollkommen entsprechen, müssen der sichtbare Ausdruck derselben seyn“. (A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. I)
Dimitris Lyacos
Der erste Tod
Übersetzungen: Nina-Maria Wanek
Verlagshaus J. Frank
2014 · 13,90 Euro
ISBN:
978-3-940249-27-2

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