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Kritik

Ein Roman aus Schlagzeilen

Hamburg

Zur Entstehung von „Lizoanca“, schreibt Doina Rusti: „Ich schlug die Zeitung auf und las einen Satz, der mit den Boden unter den Füßen wegriss: Eine elfjährige Prostituierte steckte ein ganzes Dorf mit Syphilis an. Natürlich ist mir bewusst, dass es um mich herum kindliche Prostitution, verstümmelte und geschlagene Kinder gibt, die von klein auf in die Knie gezwungen werden und einen harten Überlebenskampf zu bestehen haben. Doch in diesem Satz schimmerte auch noch etwas anderes durch: die gierige, ekelhafte Jagd nach destruktiven Schlagzeilen. Dies veranlasste mich, einen Roman zu schreiben.“

Eine derartige Aussage weckt bei mir einige Erwartungen. Da wird also jemand die Gesellschaft beleuchten, nicht nur beschreiben, sondern erfahrbar machen, welche Art von Gesellschaft das ist, die sich begierig auf derartige Schlagzeilen stürzt, während das Kinderschicksal dahinter verschwindet. Denn, und das wird im Roman sehr deutlich, es ist ja die Tatsache, dass ein ganzes Dorf sich bei einem elfjährigen Mädchen ansteckt, die die Schlagzeile ausmacht und nicht die Nachricht, dass es Kinder gibt, die auf den Strich gehen. Ein ganzes Dorf, das pädophil ist, eine Tatsache, die über meine Vorstellungskraft hinausgeht.

Leider scheint sie auch Doina Rustis Vorstellungskraft zu übersteigen, denn dieser Roman bleibt trotz aller guten Absicht an der Oberfläche, er versucht vieles zu erklären, so wie Menschen seit jeher das Unglück erträglich zu machen versuchen, indem sie nach Ursachen dafür suchen.

Doina Rusti studierte Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft und lebt in Bukarest. Neben Romanen schreibt sie Essays, Drehbücher und Erzählungen. Lizoanca ist meines Wissens der erste ihrer Romane, der ins Deutsche übersetzt wurde.

Lizoanca ist elf Jahre alt und benimmt sich wie ein störrischer Esel, was ihr diesen Namen eingebracht hat. Vor den Schlägen des Vaters geflüchtet, schließt sie sich einer Gruppe Kinder an und beginnt ihr Geld mit Prostitution zu verdienen. Rusti entwickelt eine trostlose Szenerie, dort wo Lizoanca lebt sind alle arm oder korrupt und ohne jegliche Zukunftsaussichten. In Rückblenden werden die Schicksale von Lizoancas Freiern und ihrer Eltern geschildert. Ausweglosigkeit und Tristesse reihen sich nahtlos aneinander, so dokumentarisch, dass es kaum berührt.

Im Grunde genommen erinnert die Atmosphäre an das Große Heft von Agota Kristoff, auch hier geht es um Kinder, die für sich selbst sorgen müssen. Während Kristoff jedoch in ihrer Erzählung mit kargen Sätzen ganz bei den Kindern blieb, will Rusti aufklären und erklären.

Als eine von Lizoancas Gefährtinnen sie überredet, sich in der Krankenstation des Dorfes untersuchen zu lassen, wird bei der Elfjährigen Syphilis festgestellt. Die Frau, die die Diagnose stellt, benachrichtigt umgehend die Presse. Das ist alles folgerichtig und gut vorbereitet erzählt, so kennt der Leser die Reporterin bereits, weil sie anlässlich einer arrangierten Hochzeit von minderjährigen Romakindern bereits im Dorf war.

An diesem Punkt des Romans stellt sich die Frage, was schlimmer ist, die Presse, die eine derartige Nachricht ausschlachtet, oder ein Dorf, das nichts dabei zu finden scheint, dass ein elfjähriges Mädchen sich seit Jahren prostituiert, um nicht länger zu Hause verprügelt und gedemütigt zu werden.

Eine Szene ist wirklich gut und eindrücklich geschildert. Auf der Flucht vor ihrem Vater, der sie gewaltsam aus dem Krankenhaus holt, begegnet Lizoanca einer Eidechse, der Kinder einen Nagel in den Leib geschlagen haben. In dieser Szene bleibt Rusti ganz bei dem Mädchen, seinen Beobachtungen und Taten, ohne zu erklären.

Leider lässt Rusti in ihrem Roman sonst wenig offen, und dem Leser kaum Spielräume für eigene Schlussfolgerungen. Zu viele Geschichten werden erzählt, zu viele Schicksale angerissen, statt die Geschichte vielschichtig zu machen, zerfasern diese Vorgehen den Roman.

Was dennoch recht eindrücklich deutlich wird ist, dass es um Macht geht. Die Macht der Medien, die aus dem benutzten Mädchen auf einmal eine machen, um deren Wohlergehen man sich sorgt. Die Mutter verspürt vielleicht zum ersten Mal Mutterstolz, als ihre Tochter in den Nachrichten auftaucht und selbst der Vater versucht eine Zeitlang sie gut zu behandeln.

Nach abgeschlossener Behandlung geht aber schließlich alles wieder so weiter wie zuvor und Lizoanca landet zu guter Letzt in einem Heim für missbrauchte Kinder, in dem es ihr ebenso schlecht ergeht, wie zu Hause, was den Vater mit Genugtuung erfüllt. Keiner hilft den Kindern und so scheint es als wäre dieser Kreislauf aus Unglück unmöglich zu durchbrechen. Das ist wenig mehr als eine Schlagzeile und zu wenig für einen Roman, der derartigen Schlagzeilen etwas hinzufügen könnte.

Doina Rusti
Lizoanca
Übersetzung:
Jan Cornelius
Horlemann Verlag
2013 · 224 Seiten · 16,90 Euro
ISBN:
978-3-89502-334-7

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