"Es ist wegen den Hendln."
Es ist selten, dass mir ein Buch unterkommt, angesichts dessen ich die neumodische Forderung, nicht zu spoilern, nachvollziehen kann. "Wald" ist so ein Buch. Praktischerweise lässt sich die Quintessenz des knapp 270 Seiten langen Romans ganz spoiler-free in ein Zitat fassen, das just auf jener Doppelseite steht, auf der beim frisch der Plastikfolie entrissenen Objekt das Buchband liegt (nämlich S. 166-167):
Früher, viel früher: Da brauchte man nur eine gute Ausbildung, man musste nur ein fleißiger Einserstudent sein, man brauchte nur Tüchtigkeit, Durchhaltevermögen, einen Rolodex voller guter Kontakte und viel Kaffee (oder Red Bull oder Koffeintabletten oder Kokain): Dann hatte man Erfolg. Zuverlässig. Wenn man nicht an irgendeinem Punkt den Verstand verlor (...) konnte eigentlich nichts schief gehen. Das Rezept hatte nach dem Krieg zu funktionieren angefangen, und dann funktionierte es gut fünfzig Jahre lang, und dann funktionierte es wegen ein paar dummgekoksten Wallstreetzockern plötzlich nicht mehr. Marian hatte das (...) erst alles nicht so ernst genommen, nicht so persönlich (...). Den Wirtschaftsteil hatte sie bislang nicht sehr ausführlich gelesen (...), ihr Geschäft basierte auf Kreativität, Kontaktfreudigkeit (...) und einem gewissen Talent zum Arschkriechen, nicht auf dem Dow Jones. Leider lasen offenbar alle anderen den Wirtschaftsteil und hörten auf, in eine aufstrebende Modedesignerin und ihre Entwürfe, Kleider, ihre Atelier-Expansionspläne und in ihren ersten Marian-Malin-Shop, in A-Lage natürlich, zu investieren.
In mehr oder weniger zwischen Einst und Heute alterierenden Kapiteln erzählt Knecht in "Wald" davon, wie sich eine heillos überschuldete Modedesignerin in eine Existenz als "U-Boot" am Lande rettet:
Wo ihr nichts gehörte, was man ihr wegpfänden konnte, außer dem Gemüse, das sie anbaute im Garten und den Rexgläsern im Keller. Wo nichts war, konnte man auch nichts mehr wegnehmen.
Die Prämisse ließe vieles zu: Fish-out-of-Water-Komödie, Sozialdrama, Entwicklungsroman. "Wald" ist nichts davon, oder besser: ist von allem ein bisschen. Das heisst nicht, dass man dem Roman etwa Unentschiedenheit, Zögerlichkeit vorwerfen müsste. Im Gegenteil. Knecht greift beherzt-opportunistisch die möglichen Genrevorgaben auf, um uns erstens sehr gut und auf sehr verschiedenen Ebenen zu unterhalten und um zweitens eine Moritat über die Klassengesellschaft zum Vortrag zu bringen, in der wir leben. Dies glückt umso mehr, als die Gegenüberstellung zwischen einst und jetzt, reich und arm, Jet-Set und Kleinhäuslerinnendasein zunächst mal von archetypischer Wucht ist, aber Knecht die konkreten Personen und Umstände, von denen sie schreibt, nicht noch zusätzlich auf bessere dichotomische Passform hin stilisiert. Stattdessen treten hier allerglaubwürdigste Figuren auf und verhalten sich, wie sich Leute, die man ggf. kennt, unter ihren jeweiligen Umständen eben verhalten.
Dazu gehört auch, dass nicht nur die Figurenrede, sondern auch die gewählte Erzählhaltung (dritte Person, aber Innensicht Marian) hundertprozentig die real beobachtbare österreichische Umgangssprache abbildet - nicht als kunstsprachliche Wiederaneignung wie im Fall der hierin vielleicht vergleichbaren Brenner-Krimis von Wolf Haas, sondern getragen von einem Gestus des schlichten "Man schreibe, wie man spricht". Der Unterschied zu Haas' Kunstösterreichisch besteht nicht zuletzt darin, dass in den Brenner-Büchern die schiere Möglichkeit der Reflexion auf der Subjektebene ausgeschlossen scheint, während in Knechts bzw. Marians Welt zwar "falsche" Grammatik, Kraftausdrücke und kreativ eingedeutschte Anglizismen allenthalben tief fliegen, aber die Fähigkeit zur genauen Reflexion selbst noch unter einfachsten Lebensbedingungen geradezu einer der Pointen des Ganzen ist.
Einiges von dem Unterhaltungswert des Buches resultiert auch daraus, dass in einem Absatz wie dem oben länger zitierten ein Wort wie "Arschkriechen" als nüchterne und keiner weiteren Aufmerksamkeit bedürftige Beschreibung eines Sachverhalts stehen kann. Der scheinbare Registerwechsel ist keiner - der gesamte Text gehört dem einzigen, überraschend umfassenden Register "Österr. Ugs." an, das wir uns in seiner Weitläufigkeit beim Lesen erst erschließen müssen - so, wie wir auch Marian erst langsam kennenlernen.
Der Text von "Wald" macht - auch dank der eben geschilderten Umgangssprachlichkeit - den Anschein mäandernden, ziellosen Plauderns. Gleichzeitig ist aber die Handlung höchst zielstrebig aufgebaut und konstruiert, die einzelnen Elemente des Narrativs sind fest und erzählökonomisch "korrekt" vertäut. Die Kombination aus Desillusioniertheit und gleichzeitigem Sozusagen-Happy-End, auf die der Roman zusteuert, sieht man gar nicht so leicht kommen; dennoch erscheint sie dann als das einzig denkbare outcome angesichts gerade dieser Elemente.
Es mag - es wird höchst wahrscheinlich - Leser geben, die insbesondere die Schilderung der Geschlechterbeziehungen in "Wald" problematisch bis diskussionsbedürftig finden werden. Gegen viele der Personenschilderungen wird gesagt werden können, sie seien hart am Rande der Karikatur. Beide Vorbringen werden ihre Berechtigung haben - aber weder schließen sich "problematisch" und "plausibel" aus, noch - zumal in Österreich, meiner lieben Heimat - "Karikatur" und "Wirklichkeit". Was Doris Knecht dagegen niemand wird vorwerfen können ist, dieses Buch lieblos, unsorgfältig oder undurchdacht geschrieben zu haben. "Wald" ist, als Gebilde zwischen "ernster" und "Unterhaltungs"-Literatur, zwischen Sozialstudie und Kabarett, unbedingt empfehlenswert.
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