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Kritik

Mit wacher Stimme

Essays und kleine Schriften runden Werkauswahl von Doris Lessing ab
Hamburg

Sie ist eine der beharrlichsten und streitbarsten Stimmen der englischsprachigen Literatur der Gegenwart, mittlerweile eine, wenn nicht die ‚Grand Dame‘ der Szene: Doris Lessing. Das war nicht immer so, selbst zur Vergabe des Nobelpreises an sie im Jahr 2007 murmelte und grummelte es etwas im Umfeld des Bekanntwerdens, dass die Wahl auf das vielgestaltige Werk der weit herumgekommenen Autorin gefallen sein sollte.

Geboren in Persien, aufgewachsen im südöstlichen Afrika, dem heutigen Simbabwe, seit 1949 im Vereinigten Königreich lebend, hat Doris Lessing selten ein Blatt vor den Mund genommen – vor allem ihre ambitionierte erste Werkphase hat sie berühmt gemacht. Seit 1988 erscheint ihr Werk in deutscher Übersetzung im Traditionshaus Hoffmann & Campe, anlässlich der großen Ehrung durch die schwedische Akademie wurde eine Auswahl aus ihren Texten in Angriff genommen, die nun bei der Sichtung der kleineren Formen angelangt ist. Allein der Umfang dieser Ausgabe ist exorbitant – mit 15 Bänden und etwa 8.000 Seiten schlägt sie zu Buche. Angefangen bei ihren bis heute bekanntesten Romanen „Afrikanische Tragödie“ (1950, ihr Debüt) und „Das goldene Notizbuch“ (1962) über eine Kette von acht weiteren Romanen, je zwei Bänden mit Erzählungen und Reiseberichten samt Erinnerungen an die Jahre der Kindheit und Jugend in Afrika wird die Sichtung nun beschlossen mit den Essays sowie einer Folge Gespräche und Schriften.

Auch wenn diese Texte, die den Zeitraum eines halben Jahrhunderts überspannen, zuweilen als Nebenformen des ungemein reichen literarischen Kosmos’ Doris Lessings gelten, so ist es doch falsch, sie, der prononciert postulierten Romangier des Literatur- und Lesebetriebs entsprechend, kleinzurechnen. Im Gegenteil: „Mit leiser persönlicher Stimme“, so der Titel des eröffnenden Texts von 1957, wird die Notwendigkeit und gleichzeitige Ambivalenz des ambitionierten Schreibens ausgelotet und nicht zuletzt das Problem, dass das Engagement der Künstler im Zeitgewand eines oft lässlichen Umgangs mit qualitativen Ansprüchen an ihr Werk seltsam einhergeht. Unbeirrbar ist Lessing in ihren zahllosen Gesprächen, Vorträgen und persönlichen Vignetten in der Beschwörung einer notwendigen Einheit von Leben und Kunst. Und hält sich dabei immer unbequem – bereits der Bezugswandel, wenn man die ihr zugeschriebenen Werkphasen betrachtet, ist enorm.

In gewisser Hinsicht kann Lessing, ob des Umfangs, der Wucht ihrer Arbeit eine der wenigen Schriftstellerfiguren der Gegenwart, deren Schriften man getrost mit der Ehrenbezeichnung „Werk“ im Sinn einer umfassenden, ja, weltumfassenden Bestandsaufnahme belegen kann, als Paradebeispiel einer Engführung zwischen Unbeugsamkeit und Emotionalität, Härte und Weichheit, perfekter Symbiose von Innen- und Außenschau bezeichnen. Die non-konforme Attitüde Doris Lessings ist dabei als ein Grundmerkmal zu betrachten, gründend womöglich in einer unausgesetzten Außenseiterposition, die zugleich ein Zuspruch von Freiheit gewesen sein dürfte, sich jenseits ‚moraliner Vorsehungen‘ im Stoffgelände bewegen zu können und sich eben doch, heute gelegentlich mit anrüchigen Vorzeichen behängt, ambitioniert, parteiisch zu zeigen, auf die Seite der Sache gestellt.

Das ist der Autorin, in unseren aufgeklärten Jahrhunderten, zuweilen als Abstrich vermerkt worden. – Berührendste Texte der Auswahl dürften die teils hochpersönlich memorierenden Aufsätze sein: Erinnerungen an den Vater, die Mutter: „Wir gebrauchen unsere Eltern wie wiederkehrende Träume, in die wir nach Belieben eintreten, sie sind immer da – für Liebe oder für Hass; aber mir fällt auf, dass ich nicht immer für meinen Vater da war.“  Aber auch Studien zu den „Gefängnisse[n], in denen wir freiwillig leben“, den Lernprozess, die Fragen „anders zu stellen“, Erinnerungen, Befindungen zu Katzen, die Exegese des eigenen Zimmers oder der Blick auf das Alter, das Verstreichen der Zeit und die Geheimnisse, die der Planet in den scheinbar simplen Dingen verbirgt („Henne und Ei“) berichten von der Tiefe, besser, vom Faszinosum der Tiefe dieser Erzählerin.

Vor allem in den jüngsten Texten, im „Erdmutter“-Gespräch, den die Auswahl schließenden Stockholmer Texten („Autobiographie“ und „Den Nobelpreis nicht gewinnen“ tritt die Er- gleichwertig neben die Befinderin). Und so endet dieses Buch, das womöglich viel mehr für die Entdeckung, Kenntnis des Lessing’schen Œuvres zu wirken imstande ist als die Großtexte, mit einem gewaltigen wie tröstlichen, seherischen wie erhebenden Zweisatz: „Es sind unsere Geschichten, die uns wiedererschaffen, wenn wir zerrissen, verwundet, ja vernichtet sind. Es ist der Geschichtenerzähler, der Träume-Macher, der Mythen-Macher, der unser Phönix ist, der dann für uns steht, wenn wir am besten und am schöpferischsten sind.“ Möge es sein, dass dieser bis dato wirksamen Autorin eine mitdenkende und mitstreitlustige Leserschaft ‚über die Träume hinaus‘ erhalten bleibt. 

Doris Lessing
Essays, Gespräche, kleine Schriften
Hoffmann und Campe
2013 · 448 Seiten · 24,00 Euro
ISBN:
978-3-455-40073-1

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