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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Dieselbe Stadt derselbe Himmel

Der israelische Autor Dror Burstein erzählt in seinem Roman „Emil“ von Verlust und Schuld
Hamburg

Emil hat mit seinen beiden Müttern kein Glück. Seine leibliche sechzehnjährige arabische Mutter gibt ihn 1970 unmittelbar nach der Geburt zur Adoption frei und die jüdische Lea, die ihn zusammen mit ihrem Mann Joel adoptiert, stirbt bei einem Unfall, noch ehe der Junge sechs Jahre alt ist.

Dies ist der Ausgangspunkt der Geschichte, die Dror Burstein in einzelnen Puzzleteilen vor uns ausbreitet. Die kurzen und längeren Abschnitte, in denen die handelnden Personen abwechselnd zu Wort kommen, die Traumsequenzen und die Gleichzeitigkeit zwischen Gegenwart und Vergangenheit setzten sich für den Leser aber dennoch zu einem überzeugenden Gesamtbild zusammen.

Der Roman beginnt damit, dass Lea dem vierjährigen Emil erzählt, wie sie und Joel ihn im Kinderheim ausgesucht haben. Gleich danach kommen die leiblichen Eltern zu Wort. Bis kurz vor Schluss bleiben sie als Leerstelle namenlos, werden nur mit eckigen Klammern gekennzeichnet. „[ ] und [ ]“ heißt es da, oder nur „[ ]“ oder auch „Joel und [ ] und [ ]“. Der Leser hingegen erfährt nach und nach ihre Geschichte und denkt bei jeder Klammer bald „die Mutter“ oder „der Vater“.

Die eigentliche Handlung setzt ein, als Joel siebzig Jahre alt und schwer krank ist. Er hat seit Leas Tod Emil allein fürsorglich aufgezogen, färbte sich die Haare schwarz, um mehr Ähnlichkeit zwischen sich und seinem Adoptivsohn herzustellen. Jetzt da Joel krank ist, setzt er sich in den Kopf, Emil brauche nach seinem, Joels, Tod eine neue Familie. Er macht die leiblichen Eltern ausfindig und bittet sie, den inzwischen 38jährigen Emil zurückzunehmen.

Sie können sich nicht vorstellen, welches Glück es ist, dass man geht und das Kind auf einem weichen Kissen landet. Wir haben eine einmalige Chance, sagen wir, Sie sind die ganzen Jahre, wie soll man sagen, Eltern in Reserve gewesen. Sie haben im Hintergrund auf ihn gewartet.

Die Eltern lehnen ab, weil sie denken, dass Emil das nicht will. Es schmerzte sie, dass Emil, keinen Kontakt zu ihnen aufgenommen hat, was er seit seinem achtzehnten Geburtstag gekonnt hätte. Aber mehr und mehr erzählen die einzelnen Puzzleteile davon, wie sehr das weggegebene Kind ihr Leben beeinflusst hat. Sie feiern Emils Geburtstage und als er alt genug ist, um zum Militär eingezogen zu werden, liest die Mutter alle entsprechenden Todesanzeigen und geht sogar zu einer Beerdigung, weil sie sich einbildet, dass es sich bei dem Toten um Emil handelt.

Ich sehe ihn in Uniform. Ich sage dir, diesen Sommer geht er zur Armee, im Sommer ziehen sie alle ein. Und ich sage dir, sie werden einen dunklen Jungen sehen und ihn in eine Kampfeinheit stecken.

Es geht um starke Verlust- aber auch Schuldgefühle. Jeden Tag gab er ihn weg. Jeden Tag. Jeden Tag. Dies denkt der Vater.

Dabei war er es, der mit Gewalt dafür sorgte, dass Emil adoptiert wurde. Das erfahren wir kurz vor Ende und im selben Abschnitt lesen wir zum ersten Mal die Namen der Eltern. In einer eindringlichen Szene schildert der Autor, den Schmerz, den die Mutter in sich trägt.

Der Blindengarten wurde von Emil Svissa zur Erinnerung an seine Eltern Malka und Elijahu Svissa gespendet. Zur Erinnerung an seine Eltern Malka und Elijahu Svissa. Zur Erinnerung an seine Eltern. Und sie sagte zu dem Schild die Worte, die so viele Jahre in ihr verschüttet gewesen waren: Nicht ich wollte dich verlassen. Er war es. Er. Er war es, sagte sie zu sich, wie damals, als sie plötzlich umkehren wollte zu ihm und der sie mit Gewalt ergriff, nein, würgte, sie hinauszog, hinausschleifte, brave Leute sahen ihnen zu, dem Jungen und dem Mädchen, ratlos zu, ohne einzugreifen.  

Der Blindengarten durchzieht den ganzen Roman. Alle Beteiligten besuchen ihn, treffen dort Blinde, die ein Symbol für diese fünf Menschen sind, die alle in Tel Aviv leben und sich begegnen können, ohne sich wahrzunehmen.

Sie schloss die Augen. Alle waren sie da. Sie und ihr Mann, der sich von Tag zu Tag mehr verschloss, seine Saiten waren zur Hälfte gerissen, und Joel Sissu und die Leiche seiner Frau, von der sie nicht wusste, wie sie geheiratet hatte und wie sie gestorben war, und auch das Kind Emil, das plötzlich auseinanderbrach in alle Kinder, die es gewesen war, jedes Jahr ein anderes Kind, jeden Tag, jede Sekunde ein weggegebenes Kind, nicht ein Kind, das sie verlassen hatte, sondern Millionen Kinder. Alle.
Sie sah sie alle fünf, wie sie mit ausgestreckten Händen den Weg ertasteten, einander suchend, doch nicht findend. Einander rufend, so nah, dass sie sich fast berühren konnten.

Gerade das verzögernde Erzählen, die einzelnen, sich erst nach und nach erschließenden Zusammenhänge, machen aus dem Roman eine beeindruckende Lektüre. Dazwischen hat Burstein kurze Abschnitte gestreut, die alle „Die Stadt“ heißen und mehr oder weniger apokalyptische Szenerien einer Stadt und überhaupt der Erdgeschichte beschreiben. Diese Abschnitte stehen vereinzelt da und vielleicht wollte der Autor den Roman in einen noch größeren Rahmen einbetten. Das hätte die Geschichte nicht gebraucht. Sie erzählt auch ohne diese Einschnitte genug vom Leben.

Dror Burstein
Emil
Aus dem Hebräischen von Liliane Meilinger
Wallstein
2013 · 240 Seiten · 19,90 Euro
ISBN:
978-3-8353-1207-4

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