Scheinriese mit Asphyxie
In einer scharfzüngigen Besprechung, deren Absicht im Thronsturz durch freches Gelächter bestand, hatte Fritz J. Raddatz im August dieses Jahres die Aura Durs Grünbeins als Dichter von Rang und markante Stimme der Gegenwart demontiert. Dabei hat er viele richtige Beobachtungen mit zum Teil unzureichenden oder falschen Argumenten untermauert. Raddatz’ obsolete Position hinsichtlich des Zwecks der Dichtung lautet, grob ins Allgemeine ausgreifend: „Große Lyrik aber umschließt gleich einer Frucht ihren Kern einen fast sakralen Innenraum, ein Unberührbares, Unauflösliches. Schon Walter Benjamin warnte, wer meine, ein Gedicht verstanden zu haben, der hat es eben nicht verstanden.“ Nun kann sicherlich auch ein Gedicht, das verständlich ist und dessen internes Bedeutungsgeflecht zu entschlüsseln ist, durchaus große Lyrik sein, weil es einen ästhetischen Hallraum öffnet und mit solchen Bedeutungen gesättigt ist, die es über das bloße Papiersein hinausheben.
Es ist außerdem per se nichts Verdächtiges an „Alltäglichkeiten und Banalitäten“, nur darf ihre dichterische Aufbereitung weder alltäglich und banal sein. Und hier trifft Raddatz exakt ins Schwarze, wenn er mit Blick auf Grünbeins „Koloss im Nebel“ konstatiert: „Es sind Verse ohne Rätsel, ohne Geheimnis, ohne Erschütterung für den Leser. Plauderpoeme — mal schnoddrig, mal pseudotiefsinnig, mal bildungstouristisch.“ Das liegt jedoch nicht unbedingt daran, daß „das alles wirkt, als traue der Autor der Kraft seiner Sprache nicht“, sondern an einer gewissen Distanz, einer erhöhten, nachgerade olympischen Sprecherposition, die meist keine greifende und ergreifende Beziehung zum Gegenstand entwickelt.
Der Autor traut gewiß seiner Sprache. Doch der Kritiker mißtraut ihr. Denn: „halbgebildete Verblüffungseffekte stören jegliche Stille. Immer wieder wird der Leser zum Klippschüler gemacht". Der Vorwurf der Halbbildung speist sich hier vor allem aus der Tatsache, daß sich der Kritiker „belehrt“ fühlt und ein Unbehagen verspürt, wenn er (so das Beispiel) auf die italienische Tempoanweisung „Andante Cantabile“ trifft. Wem das nicht unbedingt geläufige Wort „Klippschüler“ keine Schwierigkeiten bereitet, den dürften jedoch auch musikalische Grundbegriffe nicht stören. Es sollte also nicht verwerflich sein, dem Leser ein gewisses Maß an Bildung abzufordern, oder (in Fortdenkung der romantischen Universalgedankens) Verbindungen zu entlegeneren Welt- und Zeitgegenden zu ziehen, oder einfach bloß seltene, kostbare Worte endemisch zu machen. Auch kann ein verständliches, bildungsreiches, aus der Alltags-Beobachtung gegriffenes Gedicht „uns in die große Unbegreiflichkeit führen, die in jedem Menschen nistet.“ Oder noch viel interessanter: in die Unbegreiflichkeit der Welt und ihrer Phänomene.
Dem erheblichen Unbehagen, das sich bei der Lektüre von „Koloss im Nebel“ tatsächlich aufdrängt, kommt eine andere Beobachtung von Fritz J. Raddatz auf die Schliche, nämlich daß Grünbein „in seiner Lyrik ... das eigene Ich unter Schuttmassen von Angelesenem“ begräbt. Man könnte also sagen, Grünbein mißtraue nicht der Kraft seiner Sprache, sondern der Kraft seines eigenen Ichs; denn der souveräne, eingefühlte Umgang mit dem Sujet ist durchbrochen von Urteilen, Anweisungen, formelhaften Feststellungen, moralischen Fingerzeigen etc. Nicht die von Raddatz bemäkelten Zeilen: „Wer aber sind die da oben? — Ist keine Frage, / Die den Regenwurm quält, den Leichenbeschauer, / Den Specht am Eichenstamm, Herold des „Tag, Tag, Tag“, / Schüler des Zenon sie alle, Eleaten der ersten Stunde“, sind die eigentlichen Auslöser des Unbehagens, sondern die undifferenzierte, sentenzenhafte Behauptung nur zwei Zeilen später: „Was gestern / Noch Klassik war, Klima auf griechischen Inseln, / Ist heute Krise, morgen schon Kirmes mit Knallbonbons“. Einen Schlag, auch mehrere, mit solch eherner Keule können die Gedichte überstehen, nicht aber Dutzende, in rascher Folge. Daran ändert auch die an dieser Stelle funktionslos vergeudete Alliterationen-Schmeichelei nichts.
Das gleichförmige, künstlich unaufgeregte Parlando der meisten Gedichte des Bandes spiegelt klassische Souveränität vor, wo es in Wahrheit nichts als mechanisches Gerassel ist. Handwerklich gut, aber leblos, ohne Binnenspannung. Es gibt freilich gute Gedichte in dem Band, sogar noch mehr gelungene Stellen, aber sie verschwinden in einer geradezu nihilistischen Beliebigkeit, so daß genau das Gegenteil des erwünschten Effekts eintritt. Das Alltägliche wird nicht besonders, es wird arbiträr, erstickt unter einem steten Zuviel sowohl in der Buch-Komposition als auch in den einzelnen Gedicht-Kompositionen. Ein Dichter also, der unter dem Zugzwang unausgesetzter Produktion steht? Das ist wie die Schichtung von Akkorden, die schließlich zur Dissonanz und Atonalität führt. Selbstbescheidung täte deshalb Not. Die Hälfte des Buches, einige Gedichte nur halb so lang: man hätte ein schönes Konzentrat, das durch Geschliffenheit sehr wohl überzeugte.
Sobald die Gedichte nicht krampfhaft auf der Suche nach einem originellen, vielleicht noch unbehandelten Sujet sind, wenn sie nicht „eilfertig“ (Raddatz) und en passant abgehandelt werden, sondern sich ruhig entfalten und die innere Distanz aufgeben, gelangen sie zu einer sympathischen Wichtigkeit. Das können „Kletten“ sein, die „Freaks jeden Alters, / Im neuen Licht der uralten Sonne, / Für die es kein Bild gibt als diesen gelben Fleck, / Um den die Metaphern kreisen wie Elektronen“ („Einfaches Ouvertürenmotiv“), das „Große Foyer“ eines Kinos, die „Studien in Aquamarin“, das „Nymphenufer“ in Berlin, das „Markttor von Milet“, der Apostel Paulus beim Wechseln der Schiffe oder der Philosoph Descartes in Stockholm. Hier gewinnt die Beschreibung die Oberhand über die dauerkommentierende Instanz — und die Gedichte unterschiedlichen Tonfalls sind plötzlich wunderbar sinnlich belebt. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, ob sie sich mit Angelesenem oder Selbstgesehenem befassen.
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