E.A. Richters Gedichte erzählen von einem von Zeit und Erfahrung gestalteten Leib
Nach dem nachtblauen „Schreibzimmer“ ist in der Edition Korrespondenzen jetzt blutrot „Der zarte Leib“ erschienen, E.A. Richters neuester Gedichtband.
Der Titel weckt unterschiedliche Assoziationen, einmal wäre da der Leib Christi, aber auch (oder dementsprechend?) die eigene Verletzlichkeit, die Körperlichkeit allgemein. E.A. Richter selbst sagt zu der Gestaltung des Gedichtbandes, „es gibt einen Rahmen und ein Umrahmtes. Der Kern, das Umrahmte ist „Pessimismus und Erfahrung“, geschrieben im Mai 1972, anlässlich eines Besuches des damaligen amerikanischen Präsidenten in Österreich. Den Rahmen bilden „Der zarte Leib“ und „Leibesvisitationen“. So dass man auch sagen könnte, Pessimismus und Erfahrung, der Text, der sehr subtil und gekonnt die gesellschaftliche mit der persönlichen Ebene verschränkt, wird umrahmt, eingerahmt vom Körper, vom Leib. Und dieser wiederum wird immer wieder unter dem Aspekt der Zeit, der stetig verstreichenden Zeit, betrachtet. Man könnte gar von einer Leib- Zeit Problematik sprechen.
Insofern bedeuten die Gedichte dieses Bandes für mich auch eine gelungene Illustration eines Zusammendenkens von zwei Beobachtungen, die den Einfluss der Zeit auf das menschliche Erleben und Wahrnehmen betreffen.
„Die Zeit verwandelt uns nicht, sie entfaltet uns nur“, schrieb Max Frisch in seinen Tagebüchern, und Jahrzehnte später schrieb Priya Basil, „Alt sein heißt auch, sich selbst nicht wiederzuerkennen.“ E.A. Richters Gedichtband illustriert eine Verbindung, Verflechtung dieser zwei Beobachtungen, nämlich, dass die Zeit uns entfaltet, indem sie dafür sorgt, dass wir uns nicht wiedererkennen. Dass jede im Moment noch so einleuchtende, zweifelsfreie und unumstößliche Antwort nur vorläufig ist. Veränderbar. Entfaltung also als das Anerkennen der Widersprüche aus denen ein Leben, ein Mensch, eine Lebensgeschichte besteht.
Vor diesem Hintergrund erscheint der Autor der Gedichte als Resonanzkörper seiner Umwelt, geprägt durch die stetige Abnahme von Zeit. Was zu Pessimismus führen könnte, wäre das nicht das „und“. Ein „und“, das es ermöglicht, sich der Erfahrungen und Erinnerungen zu bemächtigen.
Louise Bourgeois hat in einem Interview gesagt, Kunst kann wieder herstellen, rekonstruieren. Diese Überzeugung finde ich in den vorliegenden Gedichten umgesetzt. Weil hier unter anderem eine Rekonstruktion von Lebensgeschichte stattfindet, eine Aneignung, die dem (begründeten) Pessimismus das „und“ der Erfahrung entgegensetzt, das subjektive der Erinnerung, die Macht, sich seine Geschichte anzueignen.
Ein Vorgang, der nicht zu haben ist, ohne eine Auseinandersetzung mit der eigenen Scham, mit einer Bloßstellung „durch mein Schädelloch“. Der Körper erscheint im Gedicht „VOLL WUCHT“, das den Auftakt macht, als Sammelstelle für die Erfahrungen und Verletzungen, die der einzelne erfahren hat. Gleichzeitig formuliert es den Aufruf, sich diesen zu stellen. Das Gedicht schließt mit dem folgenden Vers:
„Wenn Unzusammenhängendes
zusammenhängt, nimm beides.
Wenn es geschieden ist,
sei am Rand, wachsam, voll Wucht“
Ein anderes Gedicht nimmt noch einmal explizit die Frage auf, welche Rolle das Phänomen Zeit in einem Menschenleben spielt:
ZU MEINER ZEIT
„[...]
Jede Bemühung zu meiner Zeit verschlug mich
In die Annäherung an das Jetzt: zu den nackten
Tatsachen einer Unzahl zeiterschöpfter Uhren“
In MEIN PATEX geht es um die Möglichkeit, sich selbst zusammen zu kleben, aus den Details des Lebens ein für sich selbst stimmiges Bild zu erzeugen. In anderen Gedichten lösen bestimmte Worte Kindheitserinnerungen aus, um schließlich in einem Bild vom Lauf der Zeit zu münden.
Wie auch die Geschichte von der Erinnerung an den Vater über allgemeine Kindheitserinnerungen in EIN ZWEITER (ZWITTER) in die Erkenntnis münden:
„Hörig voller Erwartung;
nicht abgeneigt neuer Trauerarbeit.
Arbeit teilt mich in tausend Stücke,
Trauer klebt mich zusammen.Wenn Trauer etwas verspricht,
dann Wahnlosigkeit.
Wenn Wahn alle Lose gezogen hat,
bleibt nur noch freie Wahl
Auch in „Pessimismus und Erfahrung“ wird das Phänomen Zeit explizit behandelt:
„ich beobachte
die radikalisierung der lebensvorgänge,
beobachte
die radikale abnahme von zeit,
schon ist es september, sagst du.“
Die abschließenden Gedichte sind unter dem Titel „Leibesvisitation“ zusammengefasst.
Wobei Leibesvisitation doppelt verstanden werden kann, als Zusammentreffen zweier (oder mehrerer) Körper, aber auch als Untersuchung des eigenes Körpers. Mithin geht es in diesen Gedichten um Einsamkeit, Möglichkeiten der Verbindung, Körperlichkeit, privat und öffentlich. Und natürlich um das Begehren.
FRESSEN UND WUCHERN
Gedichte zu fressen ist nicht
meine Sache. Ich lese langsam.
Ich verweigere das Lesen, oft auch das Essen.Zur Not kommt in den Nächten so etwas
wie Kulturhunger heraus: hungrig
zu sein nach etwas nicht genau Definierbarem,in dem sich das Fernste mit dem Nächsten verbindet,
die Pflanze mit dem Objekt aus dem Kuipergürtel.
Auch die Pflanze würde ich nicht fressen,nicht weil sie nicht schmeckt oder noch grün ist:
Ich habe sie schon so lang als Genossin akzeptiert,
dass sie ein Teil von mir zu sein scheint,eine Leibesknospe. Vielleicht ist es deshalb
ein pflanzlicher Geruch, der mir entströmt.
Ich verströme mich schon jetzt als zukünftigesSediment, staubförmig oder als Film, der sich irgendwo
festsetzt und wuchert. Gedichte wuchern nicht.
Gedichte sprießen aus unterirdischen Quellen,die wiederum sich von Metaphern nähren.
Ich hasse Metaphern, weil sie ein verkehrtes
Weltbild erzeugen: Das allseits Zusammenhängende
ist zugleich das allseits Verdrängte.
Der sich enthüllende Wohlklang ist eine Leibeseigenschaft,
die sich im Lesen ereignet, als eigene geduldige Zutat.
Nicht nur weil es für mich besonders einleuchtend ist, zitiere ich zum Abschluss das Gedicht „Fressen und Wuchern“, sondern weil in diesem Gedicht, das überzeugend und eindringlich vom Kulturhunger erzählt, von dem, was Louise Bourgeois als das Wesen der Kunst beschreibt, die Herstellung von Verbindungen, von Harmonien, all die angesprochenen Motive nochmals auftauchen. Die Verbindungen und die Verdrängungen, der Leib und die Zeit, und nicht zuletzt als Quintessens; Die Verwandlung von Erfahrungen, von Verletzbarkeit und Verlust in eine eigene Geschichte.
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