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Kritik

Lernen die Zeit einzuatmen

Edo Popovic Buch Anleitung zum Gehen ist ein Aufruf zur Selbstermächtigung
Hamburg

Sechs Jahre nach dem kroatischen Original liegt „Anleitung zum Gehen“ jetzt auch auf Deutsch vor. Alida Bremer hat das Buch für den Luchterhand Verlag übersetzt. Es ist ein schönes Buch geworden, sparsam gesetzt und mit Fotos, die Edo Popovic selbst auf seinen Wanderungen aufgenommen hat, bebildert. Die Fotografien von Popovic sind insoweit gelungen, als sie spürbar machen, dass sie nicht das abbilden, was der Fotograf gesehen hat. Sie bilden eine Ahnung von dem ab, das hinter diesem eindimensionalen Bild steckt. Sich einem einfachen Haben verweigert.

Edo Popovic, der 1957 zur Welt kam und heute in Zagreb lebt, war in den 80er Jahren ein Star des literarischen Untergrunds in Zagreb. In den 90ern machte er sich einen Namen als unabhängiger und furchtloser Kriegsreporter. Einem derart kämpferischen Mann traut man ein kontemplatives Buch erst einmal nicht zu. Allerdings zeigt sich im Verlauf der genauen Lektüre, dass „Anleitung zum Gehen“ trotz aller Besinnlichkeit auch ein kämpferisches Buch ist.

Popovic greift immer wieder auf alte und neue Denker zurück, von Seneca bis Thoreau, Khalil Gibran und Hsu –t´ang. Diese Denker zieht er dafür heran, Begriffe neu zu definieren, unsere verengte Perspektive auf scheinbar Feststehendes zu erweitern, zu öffnen.

So zum Beispiel, wenn er über „Raum“ nachdenkt, und so einen Begriff, der für uns mehrheitlich sofort eine Verbindung mit Begrenztheit und Grenzen eingeht, in die Unendlichkeit überführt, um schließlich zu belegen, dass dieses Wort der Boden ist, von dem aus sich alles entwickelt und verbindet. Wenn man Begriffe wie „Eroberung“ durch „Entdeckung“ oder „Begegnung“ ersetzt, wird es möglich von dem aktuell allem innewohnenden Wettbewerbsgedanken abzusehen.

Auf diese Weise ergibt sich einerseits die Freiheit und Notwendigkeit für jeden Einzelnen, die Welt selbst zu entdecken, andererseits, beklagt Popovic, wird freier Raum immer rarer. Weil der Raum von uns Menschen dazu gebraucht wird, um zu trennen. Wir sehen uns in erster Linie als Konkurrenten, Widersacher, Feinde. Als Gegner, die es fernzuhalten gilt.

Um die Problemlage zu umreißen, fasst Popovic das Ergebnis des Fortschritts für den modernen Menschen folgendermaßen zusammen:

         „Wir sind im Zustand einer ständig beschleunigenden Besorgnis.“

Die Entwicklung des Menschen bricht er auf seine Fähigkeit herunter, sich vor einer Vielzahl von Ereignissen bzw. deren bloßer Möglichkeit zu fürchten, und dadurch beinahe zwangsläufig immer tiefer in den Mechanismus der Beschleunigung zu geraten.

„Die Beschleunigung existiert nicht erst seit gestern, sie wirkt seit 15 Milliarden Jahren. Die Evolution ist eine Geschichte der Beschleunigung – vom Urknall und den ersten Wasserstoff- und Heliumatomen, von den ersten thermonuklearen Explosionen der Sterne, die im Weltall neue Elemente und die ersten Galaxien ausspuckten, bis hin zu schnellen Bakterien, Geparden, bis zu Kimi Räikkönen und den Überschallflugzeugen.“

Wir lassen zu, dass Verpflichtungen statt wirklicher Bedürfnisse den Rhythmus unseres Lebens bestimmen, folgert Popovic, und setzt dieser Beobachtung die Erfahrung des Verbindenden entgegen. Einer Erfahrung, die befreit, im Gegensatz zu einem Dasein, das sich an Grenzen und der Anhäufung von Geld und Waren als vermeintliche Schutzwälle gegen die Widrigkeiten des Lebens ausrichtet.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie man sich der Geschwindigkeit, die zu Recht als Problem unserer Zeit erkannt und angeprangert wird, entziehen kann. Dazu liefert Popovic keine neuen Erkenntnisse. Allerdings beschreibt „Anleitung zum Gehen“ nachdrücklich einen wesentlichen ersten Schritt: die Bewusstwerdung, dass uns nichts gehört, weder die Dinge, die wir anhäufen, noch unser eigener Körper.

Popovic schreibt an gegen den „Kampf“, den wir seiner Meinung nach verloren haben: „Wir haben unsere eigene Zeit anderen zur Verfügung gestellt“, schreibt er, „und nur wenig davon für uns gelassen; wir haben erlaubt, dass unser Rhythmus von Verpflichtungen und nicht von wirklichen Bedürfnissen bestimmt wird.“

Was unter anderem daran liegt, dass es einfacher ist, zu gehorchen, als selbst nachzudenken und zu entscheiden, selbst Verantwortung zu übernehmen.

„Deshalb wird die Welt von einer kleinen Gruppe von Menschen regiert. Die anderen, die übrigen sechs, sieben Milliarden, machen das, was man ihnen sagt.“

So funktionieren Macht und Herrschaft. Das mag stark vereinfachend und naiv klingen, aber so klingt der Kern einer Wahrheit, die wir nicht wahr haben wollen, wohl immer.

Popovic These ist, dass wir eine Evolution des Bewusstseins brauchen, eine Evolution zu Bescheidenheit und Demut. Diese Evolution des Denkens beginnt damit, zu begreifen, dass „der Mensch [...] nicht das Netz des Lebens gewebt [hat] – er ist nur ein Faden darin. Was immer er dem Netz antut, tut er sich selbst an.“ (zitiert Popovic Ted Perry).

Es gibt den Kreislauf, die ständige Veränderung, aber kein Ende. Nur unser Beharren auf Stillstand, alles soll so bleiben, wie es ist. Und die Angst, weil wir natürlich im Innersten begreifen, dass das nicht geht. Selbst die Felsen, schreibt Popovic, vermeintlich vor Jahrmillionen entstandene Bergmassive, sind, ebenso wie wir, in ständiger Veränderung begriffen.

Ein wirksames Mittel gegen die Angst des zu spät Kommens ist das genaue Beobachten, ein sich selbst Verorten in der Gegenwart. Wohingegen Konkurrenz- und Neidgedanken so überflüssig sind, wie das meiste, mit dem wir die Leere in unserem Leben auszustopfen versuchen. Popovic erläutert diesen Gedanken an der Lektüre von Büchern, die Menschen geschrieben haben, die vor ihm den Velebit erwandert haben. 

 „Doch der Hintergrund, vor dem sich der Berg offenbarte, hat sich verändert, und dieser Hintergrund schließt die Erfahrungen jener Menschen ein, die vor mir hier waren.“

Die Erfahrungen anderer Menschen, machen die eigenen Erfahrungen nicht überflüssig, sie dienen vielmehr als Hintergrund für die eigenen Erfahrungen, helfen den Blick scharf zu stellen.

„Beim Gehen werden wir die eigenen Schritte hören und auch den eigenen Atem und das eigene Herz, und wenn wir uns vollständig entspannen, werden wir auch unsere eigenen Gedanken hören.“

Dann folgt sozusagen ein Anwendungskapitel, die Berichte vom Velebit Gebirge, erlesen und erwandert. Ausgelöst wurde diese Zuwendung zur Natur durch eine schwere Lungenkrankheit, die einen Wendepunkt in Popovic Leben darstellte. Er selbst schreibt: „Es stellte sich jedoch heraus, dass die Krankheit das Beste war, was mir in den letzten Jahren widerfahren war. [...] Ich gab zuerst einmal das Rauchen auf. Es gab einige weitere sinnlose Dinge, denen ich zur selben Zeit den Rücken kehrte: dem Journalismus, den kroatischen Literaturkreisen und einigen anderen Überflüssigkeiten.“

Während Popovic das Gefühl der Entschleunigung am Berg beschreibt, wird man lesend Zeuge, wie die Entdeckung der Einfachheit die Erkenntnis mit sich bringt, mit wie vielen überflüssigen Dingen wir unser Leben für gewöhnlich belasten. Dennoch schleicht sich in die ehrfürchtige Naturbetrachtung, Entschleunigung und Demut, auch hier bei den Beschreibungen eine Idee von Kampf, Überwindung und Ansammlung von Bildern, Motiven, Erfahrungen. Als wäre es dem Menschen, wie sehr er sich auch bemüht, letztendlich unmöglich Erfahrungen, Entdeckungen zu machen, ganz ohne die Gefahr einer sich subtil einschleichenden Lust auf Eroberung.

Begrenzen und erobern, diese unheilvollen Eigenschaften, die sich gemeinsam mit Aggressivität und Gewalt immer wieder durchzusetzen scheinen und Verstand, Demut und Philosophie, Kunst, bleiben immerzu unterlegen in diesem Kampf der Gewalten (weil einfach die Gewalt stärker ist?) Die Gewalt, Hab- und Machtgier und das Vergessen, was wirklich zählt. Aber auch, immer wieder die Möglichkeit des Widerstandes. Die Option zu gehen.

Der Titel „Anleitung zum Gehen“ ist doppeldeutig. Denn es geht ja nicht nur um das wortwörtliche Gehen, von dem Popovic erzählt, bei dem sich seine Gedanken gebildet und geformt haben, sondern hinter all diesen Gedanken steht letztendlich die Aufforderung an uns, zu gehen, uns in Bewegung zu setzen. Die bekannten, eingefahrenen und häufig genug unheilvollen, Wege zu verlassen und uns aufzumachen, einen Ausweg zu finden, einen gemeinsamen Weg.

Edo Popović
Anleitung zum Gehen
Aus dem Kroatischen von Alida Bremer
Luchterhand, Randomhouse
2015 · 176 Seiten · 16,99 Euro
ISBN:
978-3-630-87356-5

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