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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

"Enjoy your Revolution"

In der "Heartbeat"-Reihe der Stadtlichter-Presse ist eine umfangreiche zweisprachige Ausgabe mit Gedichten von Ed Sanders erschienen. Das ist hocherfreulich.
Hamburg

Edward Sanders ist überraschend unbekannt im deutschsprachigen Raum. Das, obwohl der '39 geborene weiterhin überaus produktiv ist, und obwohl er als Titelstichwortgeber der "Fuck You"-Lyrikanthologie von Ralf-Rainer Rygulla doch zumindest diesen einen bezeichenbaren claim to faim hierzulande hätte - ein Umstand übrigens, der mir nicht geläufig war und über den mich das Rainer Niehoffs Nachwort zu der zweisprachigen Sanders-Gedichte-Sammlung "Dürste nach Frieden in einem rasenden Jahrhundert" dankenswerterweise aufklärt.

Es handelt sich bei dieser zweisprachigen Sammlung um ein, sagen wir, lesebuchartiges Kompendium über das lyrische Schaffen des Autors, das sich seinerseits schon bei den "Selected Poems 1961-1985" bzw. "[...] 1986-2009", der Werkausgabe also, bedient. Die erste Zielgruppe der Ausgabe, neben den üblichen unverbesserlichen Betreibern von Alternativbuchhandlungen und Infoläden, sind also zweifelsohne die Fachbibliotheken an den diversen Uni-Instituten in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die mit ihr eine Lücke in der Dokumentation der Literaturgeschichte schließen können. Mithin liegt eines jener Bücher vor, in deren Rezensionen es traditionell eher um editorische Details geht, um Fragen der getreuen Übersetzung, der Kanonizität der Auswahl u.ä. - nicht um die Texte selber und die Frage, "was die können".

Im Fall von "Dürste nach Frieden in einem rasenden Jahrhundert" lässt sich diese Tradition getrost ignorieren. Der große Nutzen einer englisch-deutschen Gedichtausgabe ist ja für die meisten interessierten Leser nicht, dass sie erstmals in den Stand gesetzt würden, die jeweiligen Gedichte überhaupt zu lesen - das mag auf koreanische oder Suahili-Lyrik zutreffen. Der große Nutzen ist die schnell verfügbare Vokabel- und Redewendungsreferenz, die man benutzen oder im Einzelfall auch verwerfen kann. Deshalb: Es liegen keine Detailfragen an die Qualität der Übersetzung von Seiten dieses Rezensenten vor - wenn auch gesagt werden darf, dass sie an keiner Stelle unangenehm (dh. entweder als zwangsoriginell oder als ungenau) auffällt, und dass sie Sanders' Rhythmik und häufige Registerwechsel gekonnt mitzuvollziehen scheint.

Zu den Texten selbst: Die stammen, wie schon erläutert, aus fünf Jahrzehnten, und unterscheiden sich daher deutlich in Tonfall und Ausrichtung. Ihnen gemeinsam ist das nicht einmal ansatzweise angekratzte Vertrauen in das "Lange Gedicht", in die Fähigkeit der Poesie, gerade als Medium unhintergehbar individueller Erfahrung auch zum Medium politischer Reflexion und Bewusstseinsbildung zu taugen, neben Folksong und theoretischem Text. Klar, manches hier wirkt für unseren deutschsprachigen, post-'89er-Geschmack naiv, fast schon kitschig und/oder esoterisch - manches Andere dagegen treibt die stilistischen Errungenschaften der literarischen Moderne bis zu einer Art didaktischem, kargen Brutalismus weiter. Dieses Ineinander von Impulsen, die aktuell, 2015, als widerstrebende gelesen werden müssen, verdankt sich dem geschichtlichen Moment, der diesen Stil hervorgebracht hat: Da Hippies, Gewerkschaftslinke, Friedenstypen und LSD-Bewusstseinsforscher sich noch als Teil einer gemeinsamen Bewegung verstehen konnten, die erst dabei war, ihre Stimme zu finden - womit Sanders' frühe Arbeiten denn auch einen dieser raren geschichtlichen Momente markieren, da es bei Fragen der Dichtung tatsächlich mal ans gesellschaftlich Eingemachte geht. "Poem from Jail", das Gedicht, das den Band eröffnet, bezeugt diesen Umstand beispielsweise praktisch. "Investigative Poetry", das poetologische Manifest von Sanders aus 1976, wäre das theoretische Gegenstück dazu, das meines Wissens noch immer darauf wartet, ins Deutsche übersetzt zu werden...

Unterm Strich: Es sagt etwas Unangenehmes über den derzeitigen deutschsprachigen Literaturbetrieb aus, dass Gedichte wie die in "Dürste nach Frieden in einem rasenden Jahrhundert" derzeit nur als beinah-Exoten denkbar sind, in Übersetzung mit literaturgeschichtlichem Spezialistenhintergrund.

Edward Sanders
Dürste nach Frieden in einem rasenden Jahrhundert
Zweisprachig, aus dem Amerikanischen von Thomas Collmer und Ralf Zühlke und mit einem Essay von Reiner Niehoff.
Stadtlichter Presse
2015 · 324 Seiten · 19,00 Euro
ISBN:
978-3-936271-75-1

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