Keine Läuterung, keine Ernüchterung
Es beginnt mit drängender Neugier, harmlosen Spielchen und Internetpornos. Schnell eskaliert es und bald bestimmen die Faszination am Morbiden, sexuelle Ausbeutung und Gewalt den Alltag der Kids, die anfangs doch nur ihre Körper erkunden wollten. Mit acht von ihnen, vier Jungen und vier Mädchen, beginnt Der Sommer, als wir unsere Röcke hoben und die Welt gegen die Wand fuhr. Nicht alle werden es bis zum Ende schaffen. Und nein, es sind mitnichten keine Großstadtpflanzen, die geschwind im Ghetto verwelken. Es ist der wohlbehütete Mittelschichtnachwuchs, der in der flämischen Dorflandschaft sein Unwesen treibt.
Elvis Peeters (bürgerlich: Jos Verlooy) hat mit Wij – so der knappe Titel des Originals, zu Deutsch: Wir – keine Milieustudie vorgelegt, nein: Er dringt mit dem Roman tief in das finstere Herz einer Welt ein, unter deren Fassade höllische Abgründe aufklaffen und die wir als die normale kennen. 2009 wurde Wij in Belgien veröffentlicht, nun liegt er erstmals in deutscher Übersetzung bei Blumenbar vor, eine Verfilmung wurde erst Anfang des Jahres angekündigt. Die dürfte allein deshalb spannend werden, weil Peeters die Taten seiner Figuren extrem grafisch schildert. Sie dürfte sich aber schwierig gestalten, denn Der Sommer, als wir unsere Röcke hoben und die Welt gegen die Wand fuhr lebt von der trockenen Sprache, mit der ein Junge und ein Mädchen abwechselnd vom Treiben der Clique berichten.
»Ein Toter, drei Schwerverletzte, drei Leichtverletzte. Die Tote war eine vierunddreißigjährige Frau, Mutter von zwei Kindern. Zwei der Schwerverletzten waren ihre Kinder. Ein Junge im Alter von sechs Jahren mit schweren Verbrennungen, der nicht nur seine Mutter, sondern auch einen Arm verloren hatte, und seine vierjährige Schwester, die ebenfalls schwere Verbrennungen davongetragenen hatte. Der Vater konnte aus dem Fahrzeug entkommen und war nur leicht verletzt«, lautet das nüchterne Fazit des ersten großen Coups. Sieben Menschen sind zu Schaden gekommen, weil die vier Mädchen sich auf einer Autobahnüberfahrt entblößt hatten. »Haben unsere Mösen das tatsächlich verursacht? Haben wir eine solche Kraft? Lustig, wie sie alle danach verlangen. Und wir besitzen sie. Es wäre doch dumm, keinen Gebrauch davon zu machen«, sinniert eine der Figuren.
In der bedrückenden Ödnis des gesitteten Landlebens schlägt das Ennui der Kids in die schiere Destruktivität um, die Gier der Erwachsenen wird ausgenutzt, um die eigene zu stillen. »Die Leere muss gefüllt werden, und kein Leben. « Zerstörerisch ist das, lässt sich aber kaum als Wut entschuldigen, dafür gehen diese Teenager zu kaltblütig zur Sache. Sie sind jung. Jung, aber nicht naiv. »Wir waren gern, was wir waren, unerfahren und unverantwortlich«, heißt es an einer Stelle, »Wir sind frei, sagen wir, was seid ihr? «, fragen sie die Elterngeneration an einer anderen. Ihre Jugend und ihre vermeintliche Unschuld garantieren ihnen Immunität, sie müssen keine Konsequenzen befürchten.
So verschieben sie die Grenzen immer weiter, bis sie sich jenseits von allen bewegen. Sie filmen und feuern einen Selbstmörder an, quälen einander und demütigen andere. Ihre Gier stillen sie nicht nur mit Lust, sondern auch mit Geld. Schnell verwandeln sich die anarchischen sexuellen Experimente als lukratives, kalkuliert betriebenes Geschäft. Die Mädchen gehen anschaffen, die Jungs kümmern sich um Organisation und Finanzen. Mit Unschuld hat das nichts mehr zu tun, im Gegenteil: Aus Kindern sind knallharte Kapitalisten geworden, die ihre Jugend als Kapital ausbeuten: »Eigentlich ist es ganz einfach, es geht um Knappheit, um Angebot und Nachfrage. « Die Opfer sind selber schuld.
Der Sommer, als wir unsere Röcke hoben und die Welt gegen die Wand fuhr ist jedoch kein amoralischer Roman, sondern ein moralistischer. Er beklagt keine verrohte Jugend, sondern spiegelt und klagt die systematische Verrohung der Jugend an, die in den sozialen Strukturen vorangelegt ist. Die Kids nämlich tragen das Böse nicht in sich, sondern tun es den Erwachsenen gleich, vom irrigen Glauben geleitet, alles anders, besser zu machen. Peeters hebt nicht den Zeigefinger, er presst ihn unerbittlich in die schwelende Wunde einer Gesellschaft, die aus schierer Hilflosigkeit über die Sinnlosigkeit der eigenen Existenz das Wegschauen und Verdrängen perfektioniert hat.
Damit aber, dessen ist er sich bewusst, ist es noch lange nicht getan. So steht denn am Ende dieses auf mehreren Ebenen so schonungslosen Romans kein happy ending, keine Läuterung. Erst recht aber keine Katastrophe, nicht mal Ernüchterung. Sondern ein ebenso reueloses wie hysterisches Statement: »Die Welt liegt uns zu Füßen. « Es ist die letzte und größte Grausamkeit, die dieser zynischen Ode an die unausweichliche Banalität des Bösen gelingt. Die ist mit Der Sommer, als wir unsere Röcke hoben und die Welt gegen die Wand fuhr noch lange nicht aus der Welt geräumt.
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