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Kritik

Über Kreb

Hamburg

Kreb schluckt eine Kirsche samt Kern. Es war ein Selbstmordversuch, aber keiner will ihm glauben.

Man kann sich als Rezensent an die gefühlt in immer kürzer werdenden Abständen folgenden Einschläge der Frühjahrs und Herbstprogramme halten. Das hieße für mich, dass der Herbst schon beginnt, noch bevor der Sommer so richtig zu Ende ist. Denn einige Bücher sind schon erschienen und von manchen habe ich bereits die Fahnen erhalten. Dabei habe ich mich noch gar nicht so recht als Rezensent begriffen und immer nur für einen Leser gehalten. Gut, mittlerweile lebe auch ich saisonal.

Das Problem dabei ist aber, dass einiges auch unter die Räder kommt und nicht in dem Maße beachtet wird, wie es ihm zukäme. Da kommen mir Abschnitte, wie der folgende gerade recht:

Kreb ist nicht beeindruckt vom weiten Ozean, von seinen Haien, Taifunen, seinen versunkenen Inseln, seinen Wellen, die höher sind als unsere Häuser, der Ozean imponiert ihm nicht. Er betrachtet ihn,  ohne mit der Wimper zu zucken, die Hände in die Hüfte gestemmt, in herausfordernder Haltung, und spricht ihn dann ziemlich trocken an: „Reich mal das Salz rüber, alter Ozean.“

Im diaphanes Verlag erscheinen,  neben sehr avancierten philosophischen Titeln vor allem aus dem französischen Sprachraum (zum Beispiel Texte von Nancy) und der damit verbundenen Denkweisen (vorsichtig ausgedrückt),  auch belletristische Titel. Allerdings werden diese belletristischen Titel weit weniger beachtet, als es ihnen zukäme.

In einem Gespräch machte mich die in Paris lebende Autorin Anne Weber auf den von ihr übersetzten Éric Chevillard aufmerksam.  Ihr war meine Vorliebe für die kleinen Formen der Prosa wohl aufgefallen. Und irgendwie scheint es bei ihr wie bei mir zu funktionieren. Der kleineren Prosaform korrespondiert das lange Gedicht, denn sie hat auch Perros übersetzt, dessen Gedichtroman Luftschnappen war sein Beruf in Webers Übersetzung fast vollständig untergegangen ist.

Im Jahre 2013 erschien also im diaphanes Verlag das Buch Krebs Nebel in der Übersetzung von Anne Weber. Es handelt sich um zweiundfünfzig Prosaminiaturen, auch wenn sie vom Verlag auf der Homepage das Label Roman verpasst bekamen, die sich um die Figur Krebs drehen. Zuweilen enden die einzelnen Textbausteine mit einem geradezu aphoristischen Appendix. Die Miniaturen selbst  changieren zwischen elaboriertem Denkbild und prosaischem Kalauer. Der Autor Chevillard scheint sich für nichts zu schade, als habe er es darauf angelegt alle Seiten der intellektuellen Welt zugleich zu brüskieren und zu begeistern.

Der Leser begegnet bei der Lektüre Kreb, wie dieser sich selbst begegnet und die personale Perspektive feiert.

Sein Leben wurde in einem kleinen Kino gezeigt, das durfte Kreb nicht verpassen. Sein gesamtes Leben, ohne jeden Schnitt und ohne elliptische Überblendungen – wie ein derart schreckliches Dokument von der Zensurbehörde hatte abgenickt werden können, wusste Kreb nicht und es wunderte ihn außerordentlich. 

In Chevillards Texten passiert außerordentliches: Als würde die Tradition französischer Denkbilder und Prosaminiatur von Baudelaire an über Valéry, aber auch Walter Benjamin würde ich in diese Reihe setzen, mit dem ab- und untergründigen Humor Franz Kafkas vermählt.

Das entstandene Konglomerat bewegt sich in Unbestimmtheit, ohne dass diese dem Leser zur Last fallen würde. Manchmal erschrickt man, wenn sich aus dem artifiziellen Gewebe ein allzu direkter Gedanke löst, der aber von der nächsten Textschlinge gewissermaßen wieder eingefangen wird.

Und man trifft sogar auf Brecht als überdrehte Figur, als der vollkommen durchgeknallte Herr Keuner:

Kreb begegnet zufällig einem langjährigen Freund, an dem die Jahre spurlos vorbeigehen.
„Immer noch der Alte, wie es scheint?“
„Wie du siehst. Du hingegen … Wart mal, wart mal … du hast dir nicht zufällig die Arme abschneiden lassen?“
„In der Tat, aber bist du sicher, dass wir uns seither nicht gesehen haben?“
„Ich glaube nicht. Obwohl, vielleicht doch.“

Und während ich diese Passage abtippe, fällt mir auf, dass Chevillards Referenzen vielleicht noch viel viel weiter reichen als bis zu Brechts Keuner. Denn indem er ihn ins Absurde kippt, nähert er sich  bedrohlich den Petersburger Oberiuten um Charms. Ich lerne beim Lesen also nicht nur Kreb kennen, sondern auch das Kaleidoskop vergangener Lektüren ordnet sich im neuen Spiegel neu.

Éric Chevillard
Krebs Nebel
übersetzt von Anne Weber
diaphanes
160 Seiten · 16,90 Euro
ISBN:
978-3-03734-248-0

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