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Kritik

Sozialismus systematisch und anders gedacht

Hamburg

Erik O. Wright hat eine Vision von realen Utopien, das ist für ihn nämlich „ein gesellschaftliches und politisches Projekt, das im Kampf um reale Demokratie innerhalb von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft verankert ist“. Eine solche Vision zu haben, ist wichtig, damit Menschen eine Vorstellung von gangbaren Alternativen zum Bestehenden zuerst und überhaupt einmal denken können. Dabei verfolgt Wright dieses Real Utopias Project zusammen mit Kollegen seit 1992. Das vorliegende Buch, das bereits 2010 im Original erschienen ist, ist das siebte Buch im Rahmen dieses Projekts, wozu auch acht Konferenzen gehören.

Dieses Buch ist dreigeteilt: Nach einer Diagnose und Kritik am bestehenden System - Was ist so schlimm am Kapitalismus? - geht es im zweiten Teil um Alternativen hierzu, dem sich im dritten Teil die Behandlung möglicher Wege dorthin anschließen, also der Transformation.

In elf Kritiken am Kapitalismus zeigt Wright detailliert die Schwachstellen des Systems, z.B. dass der Kapitalismus systematisch unnötiges menschliches Leid erzeugt; dass sich nicht alle Menschen entsprechend ihrem Potenzial voll entfalten können; dass er für viele eine erhebliche Beschränkung individueller Autonomie und Selbstbestimmung ist; dass er in vielerlei Hinsicht ineffizient ist (der Markt kann z.B. keine positiven Externalitäten in Rechnung stellen); dass er weniger konsumorientierte Lebensweisen systematisch behindert; dass er die Umwelt zerstört; dass die kapitalistische Kommodifizierung zu einer Entwertung führt; dass er aufgrund seiner Verbindung zum Imperialismus den Militarismus befeuert; dass er die Gemeinschaft zersetzt; dass er die Demokratie begrenzt.

Wright verwendet eine andere Definition von Sozialismus als üblich. Für ihn bedeutet Sozialismus „die Unterordnung der wirtschaftlichen unter die gesellschaftliche Macht“. Wright bricht damit mit der Vorstellung der Linken, der Sozialismus müsse vom Staat organisiert werden. Dazu entwickelt er insgesamt sieben unterschiedliche Pfade, auf denen die gesellschaftliche Macht in Form von aktiver Beteiligung und Ermächtigung gewöhnlicher Menschen in der Zivilgesellschaft mittelbar sowie unmittelbar eine demokratische Kontrolle der Wirtschaft ausübt. Hierzu zählt er zum Beispiel auch die Verbandsdemokratie, die Kooperativ-Marktwirtschaft und die Sozialwirtschaft. Sein Credo ist hierbei, dass es nicht nur einen Weg zum Sozialismus gibt, sondern dass es Sinn macht, auf möglichst vielen der sieben Pfade Fortschritte zu erreichen, was dann später in ihrer Summe zu tatsächlicher gesellschaftlicher Veränderung führen wird.

Bei der gesellschaftlichen Ermächtigung in Bezug auf den Staat unterscheidet Wright zwischen direkter, repräsentativer und Verbandsdemokratie. Als ein konkretes Beispiel einer realen Utopie im Zusammenhang mit dem Staat behandelt er (unter anderem) die partizipative städtische Haushaltsplanung, wie sie in Porto Alegre praktiziert wird.

Bezüglich des Einflusses der Gesellschaft auf die Wirtschaftstätigkeit geht Wright auf zahlreiche Ideen ein. Beispiele für solcherart reale Utopien sind: das bedingungsloses Grundeinkommen (BGE), Wikipedia („eine zutiefst antikapitalistische Methode der Wissensproduktion und -verbreitung“) und Mondragón, das sind selbstverwaltete Kooperativen in Spanien. Das BGE ist dabei wichtig, da es vielen Menschen die Möglichkeit geben würde, sich trotz schlechter Bezahlung oder ehrenamtlich im Bereich der Sozialwirtschaft und der solidarischen Ökonomie zu engagieren, quasi in den Freiräumen zu arbeiten, um „die Grenzen des Möglichen fortlaufend aus[zu]loten“ und um neue Institutionen zu schaffen.

Wright entwickelt im dritten Teil des Buches eine Theorie der Transformation. Gesellschaftliche Veränderungen sind dabei in dreierlei Weisen möglich. Einen Bruch, also eine Revolution, hält er zumindest unter demokratischen Bedingungen für unwahrscheinlich. Einer auf Freiräumen beruhenden Metamorphose, was zunächst keine unmittelbare Bedrohung des Kapitalismus bedeutet. Hierbei kritisiert Wright, dass bei diesen Freiraumstrategien der Staat unnötigerweise vollkommen ignoriert wird. Einer symbiotischen Transformation (das ist die sozialdemokratische Tradition, die auf dem sogenannten Klassenkompromiss aufbaut), die sogar Teile des kapitalistischen Systems massiv stärken kann. Wrights Fazit bezüglich gesellschaftlicher Veränderungen: Eine geschickte Kombination aller drei Ansätze. Ein emanzipatorischer Bruch mit dem Kapitalismus wird zum Beispiel durch noch unter dem Kapitalismus erzielten Erfolgen gesellschaftlicher Umgestaltung leichter und nachhaltiger zu bewerkstelligen sein bzw. ist sogar eine notwendige Vorbedingung hierfür. Andererseits wird die Stärkung der gesellschaftlichen Macht durch die Belegung von Freiräumen „nur so lange toleriert werden, wie sie die grundlegenden Machtverhältnisse des Kapitalismus nicht bedroht.“ Will man an solchen Punkten wirklich weiterkommen, wird man dann wohl kaum um einen Bruch mit dem System (zumindest in Teilbereichen) herumkommen.

Ziel dieser ganzen Untersuchungen ist es, die Gangbarkeit einer radikal egalitären und demokratischen Alternative zum Kapitalismus aufzuzeigen. Wright lotet hierzu aus, was für realistische Alternativen zum bestehenden kapitalistischen System bestehen. Er kritisiert dabei Karl Marx in der Art und Weise, dass dieser mit seinen Schriften nachweisen wollte, dass der Kapitalismus automatisch sich selbst abschafft. Deswegen hat sich Marx selber auch weniger um die Gestaltung der emanzipatorischen Transformation gekümmert. Genau darauf legt aber Wright sehr großen Wert. Seine Hauptkritik, warum Marx nicht recht behalten hat: Die Arbeiterklasse ist wesentlich heterogener als von Marx gedacht. Das „erschwert die Aufgabe, Solidarität und stabile politische Bündnisse aufzubauen“.

Als sozialwissenschaftlicher Akademiker geht Wright bei der  Entwicklung seiner Theorie der Transformation, aber auch bei der Kritik und den Alternativen am bzw. zum kapitalistischen System sehr gründlich und systematisch vor. Das führt jedoch dazu, dass dieses Buch relativ lang geworden ist. Ich befürchte beinahe, dass diese Länge und Ausführlichkeit dazu führen wird, dass es von politischen AktivistInnen wenig gelesen wird. Obwohl es genau für diese Leute lesenswert ist. Im Nachwort meint Michael Brie nämlich, dass es bisher „keinen vergleichbaren systematischen Ansatz [gibt], wissenschaftlich konsistent Kapitalismuskritik, Sozialismusbegründung, Formulierung von realen Utopien und Transformationstheorie organisch zu verbinden“.

Der Hinweis auf Freiräume, Nischen und Risse im System erinnert auch stark an das Buch „Kapitalismus aufbrechen“ von John Holloway. Aber im Vergleich zu der Tiefe von Wrights Buch scheint mir Holloways Buch, obwohl sehr informativ und spannend zu lesen, da doch nur an der Oberfläche zu kratzen. „Reale Utopien“ ist hier viel systematischer, konkreter und allumfassender.

Erik Olin Wright
Reale Utopien - Wege aus dem Kapitalismus
Aus dem Amerikanischen von Max Henninger Mit einem Nachwort von Michael Brie
Suhrkamp
2017 · 24,00 Euro
ISBN:
978-3-518-29792-6

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