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Kritik

Für immer und ewig mit gezücktem Schwert

Eshkol Nevo erzählt in »Neuland« von israelischen Traumata und von der Liebe – und verzettelt sich ein wenig
Hamburg

Es ist schon ein bißchen gespenstisch, tagsüber in den Nachrichten vom letzten Stand des Gaza-Konflikts zu hören und abends in diesem Buch zu lesen: »Neuland« des israelischen Autors Eshkol Nevo. Denn auch in Nevos Roman ist Krieg, wir sind im Jahr 2006, der zweite Libanonkrieg fordert in den 34 Tagen, die er dauert, mehr als 1500 Todesopfer.

Aber das liegt nicht im Fokus des Buchs, es ist bloß die Folie, vor der die Rahmenhandlung spielt. Und das gehört zu den Problemen des Textes.

Eshkol Nevo, Jahrgang 1971, ist in Israel ein eingeführter, sogar ein arrivierter Autor, obwohl er erst drei Romane vorgelegt hat, preisgekrönt, mehrere Nominierungen, Bestseller. Der Enkel eines früheren israelischen Ministerpräsidenten geht mit der Politik und der Kriegsführerei seines Heimatlandes durchaus kritisch um.  Sein erster Roman »Vier Häuser und eine Sehnsucht« berichtet auch aus palästinensischer Sicht vom Nahostkonflikt, und in »Neuland« sagt einer der Protagonisten: »Die wollen uns hier nicht, unsere Nachbarn. Für immer und ewig werden wir ihnen mit gezücktem Schwert gegenüberstehen müssen, und wer die ganze Zeit das Schwert hält, hat keine Hand frei, um Musik zu machen, um zu schreiben, um zu lieben. «

Der Hauptteil des Buchs spielt in dem Monat vor Ausbruch des Libanonkriegs. Vorgestellt werden zwei Familien. Da ist zunächst Dori, Geschichtslehrer in Jerusalem, der seinen Sohn Neta abgöttisch und seine Managerin-Frau Roni nicht mehr ganz so heftig liebt; Doris Vater Meni ist nach dem Tod von Doris Mutter seltsam geworden, nach Südamerika aufgebrochen und dortselbst verschollen; Dori macht sich auf den Weg, ihn zu suchen. Auf der gegenüberliegenden Seite lernen wir Inbar kennen, Produktionsassistentin beim Radio, verhinderte Schriftstellerin, mehr liiert als zusammen mit Ejtan; Inbar ist Tochter von Hanna, die im bösen Deutschland mit einem bösen Deutschen lebt, und Enkelin von Lili, die dem Holocaust durch Flucht nach Palästina entgehen konnte, im Gegensatz zum Rest ihrer Familie. Inbar besucht ihre Mutter in Berlin, will dann nicht zurück nach Hause, sondern nimmt das zweitbeste Flugzeug, das zufällig nach Lima fliegt. So begegnen sich Dori und Inbar.

Und dann suchen sie zusammen nach Doris Vater Meni, unterstützt von Alfredo, einem rauhbauzigen professionellen Menschenfinder, der endlich mal wieder keinen schon toten Menschen finden und ansonsten immer nur zwischen die Beine irgendeiner Frau will, obwohl er im Übrigen ganz sympathisch ist. Schließlich treiben sie Meni in Argentinien auf. Dort hat er »Neuland« gegründet, eine Community für seelisch verwundete Israelis – durch Krieg und Tod seelisch verwundete Israelis. (Dieser Teil des Buches spielt mit und bezieht sich auf Theodor Herzls Roman »Altneuland«, der die Utopie einer jüdischen Gemeinschaft entwirft.) In diese Community passen Dori und Inbar eigentlich gut rein, denn sie sind auch verletzt, Dori durch das Abweisende seines Vaters nach dem Jom-Kippur-Krieg, Inbar durch den ungeklärten Tod ihres kleinen Bruders bei der Armee. Dori und Inbar verlieben sich schon auf den Hinweg, aber die Umstände ihres jeweiligen Lebens zu Hause, die Umstände der Reise, der Suche, des Findens und dann des Kriegsausbruchs hindern sie daran, ihre Sehnsüchte umzusetzen. Ganz am Schluß bekommen sie noch mal eine Chance; Nevo erzählt nicht, wie es ausgeht, man kann es sich aber denken.

Tja. Gute Geschichte. Auch spannend. Und es ist nicht so, daß Eshkol Nevo das nicht alles erzählen könnte. Im Gegenteil. Er ist zum Beispiel einer der wenigen Autoren, denen es gelingt, das Weglassen von An- und Abführungszeichen nicht als die manierierte »Ich mach‘ mal irgendwas anders«-Marotte erscheinen zu lassen, die sie bei den meisten Verfechtern dieser Art zu schreiben ist: Hu, was sind wir toll, wir machen es den Lesern schwer. Nein, bei Nevo ist das wie selbstverständlich Teil des Schreibflusses, und man weiß immer, wo man ist. Schon deswegen ist er ein guter Erzähler. Grandios und herzzernagend sind zudem die Passagen, die von Lilis Auswanderung aus Polen und der zermürbenden Schiffsreise nach Palästina handeln.

Aber Nevo verzettelt sich auch. Wir erfahren zuviel von Südamerika aus dem Reiseführer. Nevo gibt Inbar ein wildes Alter Ego namens Nessia bei und verflechtet es mit der Legende vom Wandernden Juden, als dürfe ein Lateinamerika-Roman nicht ohne einen Schuß magischen Realismus auskommen. Alfredo steigt irgendwann fadenscheinig aus der Geschichte aus und ward nicht mehr gesehen. Und die Beschreibung von Menis »Neuland«-Community gerät – man weiß es nicht: Soll das auch ironisch sein? Oder gar ernst? Dann ist es unfreiwillig komisch. Vater Meni sagt, Staaten bräuchten eine Vision wie eine Familie die Liebe. Staaten brauchen aber allenfalls einen Konsens.

Das, was neben der Liebesgeschichte und der Auswanderungsgeschichte von Oma Lili der Aussagekern des Romans ist, daß nämlich ein permanenter latenter und erst recht ein realer Kriegszustand Menschen auch innerlich zerstört, kommt praktisch nur als Behauptung vor, es wird nicht erzählt. Bloß in einer Passage erfahren wir etwas von Menis Traumata. Aber das ist zu wenig für so ein Buch. Vielleicht hat Nevo zuviel auf einmal gewollt. Etwas Beschränkung und etwas mehr Ausarbeitung in den entscheidenden Bereichen hätten dem Roman sehr genützt.

Doch man liest ihn schon zu Ende.

Eshkol Nevo
Neuland
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
dtv
2013 · 640 Seiten · 24,90 Euro
ISBN:
978-3-423-28022-8

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