Irrtümer überstehen
„Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen…“ begann Christa Wolf 1976 ihren Erfolgsroman „Kindheitsmuster“ mit einem bei Faulkner entlehnten Satz. Er könnte auch für Eugen Ruges Anfang September erschienenes Romandebüt „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ als Motto stehen. Ruge hat mehrere Generationen und eine andere Epoche als Wolfs Roman im Blick. Aber auch sein Buch macht verborgene Prägungen erkennbar, die unsere heutige Realität mitbestimmen, obwohl sie auf den ersten Blick von unserem Gegenwartsrummel Äonen entfernt scheinen.Sein solide erzählter Roman porträtiert eine Familie deutscher Kommunisten angesichts des Untergangs des Sozialismus. Die Kraft der Ideologie verblasst, die Familie jedoch verschwindet nicht. Und ihre Wurzeln und Bezüge sind weniger provinziell, als man es DDR-Bürgern für gewöhnlich zugesteht. Zwischen Mexiko und Russland ausgebreitet, spielt der Roman hauptsächlich in Randberlin, wo die Haute Voleé der DDR ihre staatlich zugewiesenen Häuschen im Grünen bewohnt.Von der Nachkriegszeit bis ins beginnende 21. Jahrhundert reicht die Erzählspanne, in der wir die Mitglieder vierer Generationen der Familie Umnitzer kennenlernen, die dem Leser in ihrer glaubhaften Widersprüchlichkeit rasch ans Herz wachsen.
Die Großeltern Wilhelm und Charlotte, überzeugte kommunistische Antifaschisten, kehren am Beginn der Geschichte auf Parteibeschluss aus ihrem langjährigen Exil in Mexiko in die Heimat zurück, um als zuverlässige Funktionäre am Aufbau eines „besseren Deutschlands“ mitzuwirken. Eine Geschichte, wie sie sich damals tausendfach abgespielt hat: Einfache, kaum gebildete Leute steigen in der Nachkriegszeit dank des enormen Bedarfs an tatkräftigen Erbauern des Sozialismus unvermittelt auf in die Führungsschicht des Arbeiter- und Bauernstaates; sie deuten ihre eigene Vergangenheit durch Weglassung und Akzentverschiebung solange um, bis sie dem erwünschten Mythos vom „antifaschistischen Widerstandkämpfer“ entspricht und glauben, berauscht von der vielfachen Bestätigung durch Partei und Gesellschaft, am Ende selbst an ihre „gesetzmäßige“ politische Führungskompetenz, während ihr Privatleben, von all den großen Reden und Gesellschaftsprozessen seltsam unberührt, weiterhin proletarisch-kleinbürgerlich dahintrottet.
Im Zentrum der Familie agiert Charlotte und Wilhelms Sohn, der enthusiastische DDR-Historiker Kurt Umnitzer.Er verkörpert jenen Typus des „sozialistischen Bildungsproletariers“, wie sie die Nachkriegsgeneration im Osten Deutschlands, der mit dem Neuaufbau und im Wettbewerb der Systeme zunächst alle Türen offen standen, vielfach hervorgebracht hat. Karl meint es ernst mit dem besseren Leben, er nutzt alle Chancen, in seiner Karriere als Geisteswissenschaftler verfolgt er große Visionen und genießt die Vorzüge seiner Stellung, auch wenn seine privaten Ansprüche vergleichsweise bescheiden bleiben. Seine nicht weniger lebenslustige russische Frau Irina sieht die Dinge pragmatisch und kümmert sich um Naheliegenderes: Den Erhalt des Familienlebens, die Hausgestaltung, die Festtagsküche. Die Episoden um ihre russische Mutter,Baba (Großmutter) Nadeschda Iwanowna, die als alte Frau aus der russischen Provinz ins Haus Umnitzer kommt und versucht, ihre russische Armeleute-Mentalität irgendwie mit dem DDR-deutschen Emporkömmlingsleben ihrer Tochter in Einklang zu bringen, gehören literarisch zum Eindrücklichsten, was der Roman zu bieten hat.
Seine Spannung zieht Ruges Familienepos aus den Perspektiven der einzelnen Figuren, deren Interessenlagenunterschiedlicher kaum sein könnten. Scheinbar einander ähnlich, verkörpert jedes Familienmitglied einen anderen Menschentyp der untergegangenen sozialistischen Gesellschaft: Der urdeutsche Arbeiterfunktionär, die überforderte Funktionärsgattin, der sozialistische Akademiker, die erfolgsorientierte Russin, der Aussteigerenkel, die vegetarische Dissidentin, der Gameboy-spielende Urenkel usw., alle werden aus ihrer eigenen Logik heraus beschrieben. Statt Klischees und großer historischer Momente werden alltägliche Geschichten aus dem Leben der Familie geschildert: Geburtstage, Feiertage, Reisen und Familienkrisen. Ruge nutzt die erzählerischen Nahaufnahmen der Protagonisten, um verschwundene Lebenszusammenhänge mit einer Vielzahl von Kleinigkeiten und Episoden lebensnah und glaubhaft zu rekonstruieren, ohne einen hohen Schicksalston anschlagen müssen. Indem er seine Charaktere anhand von Gewohnheiten und Gegenständen detailgenau porträtiert, lässt er die Realität der Milieus für sich sprechen - der Leser kann selbst werten und für die eine oder andere Perspektive Verständnis entwickeln. Die Komplexität der „anderen“ deutschen Wirklichkeit ergibt sich aus dem Zusammenklang der unterschiedlichen Perspektiven, ohne dass etwas erklärt oder kommentiert werden müsste; ein überzeugendes Verfahren, bei dem Ruge (der für ein Kapitel aus dem Arbeitsmanuskript zu diesem Romanbereits 2009 den Döblin-Preis der Akademie der Künste erhielt) offenbar auf seine Erfahrung als Theaterautor zurückgreifen konnte.
Sprache und Text des Romans sind angenehm klarstrukturiert, die Kapitel nach den jeweiligen Zeitebenen benannt, wobei der 1. Oktober 1989, gewissermaßen der „Vorabend der Wende“, an dem der halbsenile, aber hochdekorierte Staatsfunktionär und Familienpatriarch Wilhelm seinen 90. Geburtstag feiert, die thematisch durchgängige Achse bildet. Wie wir wissen, wird schon einige Tage später, am 9. Oktober 1989, in Leipzig das Schicksal der DDR besiegelt; die eigentlichen „Wende-Erreignisse“ kommen in Ruges Roman jedoch nur am Rande vor, auch wenn letztlich die gesamte Geschichte der Familie Umnitzer um diesen existenziellen Epochenwandel kreist.Die verschiedenen Zeitebenen erweitern den Blick hin zu den geschichtlichen Ursachen und ergeben ein überraschend schlüssiges Ganzes, obwohl sie nicht chronologisch erzählt werden. Und auch die Perspektivwechsel zu den einzelnen agierenden Figuren verwirren nicht, sondern bringen im Gegenteil stets etwas Neues in die Geschichte ein. Hinzu kommt eine leise Ironie des Erzähltons, der seinen Witz nicht aus der Sprache, sondern der unvermeidlichen Situationskomik einander widersprechender Interessen,aus der Absurdität des Erzählten selbst zieht. Ruges Buch erzählt weniger sprachexperimentell als etwa Uwe Tellkamp in „Der Turm“, dafür lesbarer, komischer und gewissermaßen als thematischer Konterpart – indem er ein anderes Milieu, nämlich das der zukunftstrunkenen Ostberliner Funktionäre, mit ähnlicher Intensität literarisch beschreibt, wie Tellkamp vor wenigen Jahren das der „eher unpolitischen“ vergangenheitsseligen Alt-Dresdner Bildungsbürger. Trotz Ruges heutiger Sprache denkt man, Vergleiche suchend, eher an Autoren wie Anna Seghers als an die Helden aktueller Bestsellerlisten, aber das muss ja nichts Schlechtes heißen.
Seine Schwachstelle hat dieser wunderbare Roman in der Figur des Sohnes Alexander, genannt Sascha, dessen bruchstückstückhaft erzählte Geschichte ein weniger konsistentes Bild ergibt, als die übrigen Charaktere. Zwar sind die Beschreibung von Saschas Armee-Vereidigung oder ein Vater-Sohn-Streit, der uns durch den winterlichen Prenzlauer Berg des Kältejahres 1979 führt, wahre atmosphärische Kleinode, aber sie machen die Beweggründe Alexanders kaum verständlicher. Selbst dessen Krebserkrankung mit der daraus folgenden Lebenskrise läuft in fast banalen, gegen die Geschichten der anderen Figuren seltsam flach wirkenden Touristenerlebnissen in Mexiko aus, die diese beeindruckende Familiengeschichte zudem zeitlich beschließen (im Jahre 2001) und deshalb das etwas laue Ende des Romans bilden. Auch dessen Partnerin Melitta, vom Sohn Markus später vielsagend Muddel genannt,bleibt leider relativ blass und eher skizzenhaft zweidimensional.Hier darf man vermuten, dass der Autor Eugen Ruge, selbst Sohn eines prominenten DDR-Historikers, zu nah an die autobiografischen Quellen seines Plots geriet und in der Vermeidung des allzu Privaten befangener und deswegen auch literarisch weniger klar schrieb. Umso großartiger ist die Darstellung der anderen Generationen gelungen: Die russische Baba ebenso wie die Großeltern Charlotte und Wilhelm, der Sohn Kurt mit Gattin Irina oder auch deren Enkel Markus – sie alle sind unvergessliche Charaktere, mit denen sich dieses Buch zweifellos den Textkanon der neuen deutschen Literatur bereichert.
Dem Germanisten und Politiker Wolfgang Thierse wird der kluge Satz zugeschrieben, die deutsche Einheit könne nur gelingen, wenn Ost und West gegenseitig ihre Lebensgeschichten erzählten. In diesem Sinne schließt Ruges Roman eine echte Lücke: Deutsche Kommunisten und SED-Funktionäre wurden in der deutschen Nachwendeliteratur selten so lebendig aus der Nähe beschrieben - und kaum mit soviel Respekt, der dennoch keine Verirrung verschweigt. Ruge erzählt im Halbdämmer der Geschichtsbücher versunkene ostdeutsche Lebensgeschichten und bringt ihre internationalen, ihre epochalen Verknüpfungen ans Licht. Man könnte fast behaupten, dieser Roman bilde ein Bindeglied zwischen dem „abgeschlossenen Sammelgebiet“ der DDR-Literatur und der neuesten deutschen Literatur - wenn durch dieses Buch nicht auf souveräne und unaufgeregte Weise klargestellt würde, das beide längst ein ineinander verflochtenes, gemeinsames Ganzes bilden.
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