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Kritik

Hotel der kleinen Leute

Ein französischer Klassiker, neu übersetzt
Hamburg

Denkt man heute an Paris in den 1920er Jahren, fallen wohl zuerst große Namen aus Kunst und Literatur ein. Picasso, Hemingway, Dalí, Gertrude Stein. Vor allem außerhalb Frankreichs ist das Bild dieser Dekade geprägt vom Leben der Bohème in Montmartre und Montparnasse. Jährlich pilgern unzählige Touristen zu den Kultstätten dieser Zeit, wie etwa dem Bateau-Lavoir oder dem Café du Dôme. Ein heute eher von Einheimischen frequentierter Schauplatz dieser Zeit befindet sich hingegen am Canal Saint Martin und beherbergte seinerzeit diejenigen, denen ein Künstlerleben ganz und gar fremd war.

Das Hôtel du Nord am Quai de Jemmapes war ein so genanntes Wohnhotel, in dem vor allem Arbeiter mit geringem Lohn abstiegen, die sich keine Wohnung mit eigener Möblierung leisten konnten. 1923 pachteten es die Eltern des Schriftstellers Eugène Dabit, die selbst dem Arbeitermilieu entstammten. Der damals 25-jährige Dabit, dessen Versuche Maler zu werden wenig Erfolg versprachen, half regelmäßig im Hotel der Eltern aus. So wurde er zwangsläufig zu einem präzisen Beobachter der Gäste, die nicht selten vom einen Tag auf den anderen auszogen und für immer verschwanden. Auch wenn ihre Geschichten oft nicht von einem großen Schicksal geprägt waren, entschloss sich Dabit diesen Menschen eine Stimme zu geben, ein Andenken an sie zu schaffen.

35 kurze Kapitel umfasst der Roman Hôtel du Nord, in dem der Leser zahlreiche Figuren kennenlernt. Obwohl Kennenlernen vielleicht nicht das richtige Wort ist, denn oftmals wird nicht mehr als eine kleine Episode erzählt, in der man etwa vom homosexuellen Adrien erfährt, der als Carmen verkleidet zu einem Maskenball aufbricht und von den anderen Hotelgästen kritisch beäugt wird. Auch von Bénitaud hört man, ein Mieter, der auffällig viel Post bekommt und in dessen Zimmer sich Bücher von Lenin und Marx finden. Der kommunistische Revolutionär zieht schon bald die Aufmerksamkeit der Polizei auf das Hotel, was die Pächter Emile und Louise Lecouvreur nur mit einem Rauswurf quittieren können.

Doch das ist nicht der Regelfall. Vor allem dient das Hotel als Herberge und letzte Zuflucht für die Glücklosen am Kanal. „Mechanische Existenzen, unwiderruflich an Aufgaben gekettet. Leute aus allen Berufszweigen sind da. Ein paar Angestellte, ein Buchhalter, Kellner, Elektriker, zwei Drucker; dazu sämtliche Baugewerke, Straßenarbeiter, Gipser, Maurer, Zimmermänner, mit denen man ganz Paris wiederaufbauen könnte, falls ein Erdbeben es zerstörte. Um sieben sind die allesamt verschwunden.“

Eine solche Existenz ist auch die junge Renée, die dem Lohnkutscher Trimault in die Hauptstadt folgte, doch von ihm sitzen gelassen wird, als er erfährt, dass sie schwanger ist. Louise beschließt Renée zu helfen, indem sie sie als Putzfrau und Dienstmädchen im Hotel arbeiten lässt. Neben den Hoteliers wird Renée so zu einer der wenigen Figuren, die über längere Zeit zu den Mietern des Hotels und zur Handlung des Romans gehört. Denn alles in allem ist Hôtel du Nord kein klassischer Roman, sondern eine episodisches, wenn auch fiktionalisiertes Portrait eines Paralleluniversums im 10. Arrondissement.

Dementsprechend liegt die Schwäche des Romans vor allem in seinem fehlenden Spannungsbogen, was mitunter zu Langeweile führen kann. Andererseits dient das fast schon fragmentarische Erzählen der Darstellung des gleichförmigen Lebens der Hotelbewohner und -betreiber. Julia Schoch, die den Roman neu übersetzt hat, fasst dies in ihrem Nachwort treffend zusammen: „Jeder für sich genommen ergäbe kein Schicksal. Aber im Zusammenspiel wird aus ihnen so etwas wie die kollektive Stimme von Paris.“

Diesen Eindruck hatten wohl auch die französischen Leser, die Dabits Roman bei seinem Erscheinen 1929 rasch zu einem Erfolg machten. Auch die Kritik lobte das Buch, dem 1931 der Prix du roman populiste verliehen wurde. Ein Preis, der bis heute Romane über die „kleinen Leute“ auszeichnet und mittlerweile sogar nach Dabit benannt ist. Zum Kult wurde Hôtel du Nord aber auch wegen der gleichnamigen Verfilmung durch Marcel Carné im Jahr 1938. Obwohl der Film nicht am Originalschauplatz gedreht wurde, ist das Hotel am Quai des Jemmapes heute ein denkmalgeschützter Pilgerort, in dessen Café und Restaurant vor allem den alten Zeiten des französischen Films gehuldigt wird.

Wer also das unglamouröse und weniger verklärte Zwanziger Jahre-Paris kennenlernen will und zudem einer eher sachlich-minimalistischen Literatur etwas abgewinnen kann, wird mit Hôtel du Nord von Eugène Dabit eine Entdeckung machen.

Eugène Dabit
Hôtel du Nord
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Julia Schoch
Schöffling & Co
2015 · 224 Seiten · 19,95 Euro
ISBN:
978-3-89561-166-7

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