gleiten in der hohen luft
Innehalten, einmal wenigstens, aufmerken in einer Zeit der Beschleunigung, des rasenden Wandels, des Mangels an Aufmerksamkeit auch für die eigene Verlorenheit – nein, derart schlicht würde Evelyn Schlag ihre Intention vermutlich nicht beschreiben. Und doch ist es genau das, was sie in ihrem neuen Gedichtband „verlangsamte raserei“ macht: Sich den Luxus der Verlangsamung erlauben und ein Wort in die Hand nehmen, es betrachten, eingehend, konzentriert, zunehmend fokussiert geduldig warten und einem Flottieren Platz einräumen, jenem des eigenen Selbst, das dieses eine Wort, das Wort für Wort annimmt, es poetisch verwandelt und in diesem Resonanzraum mit Sprache energetisch auflädt. Das Ergebnis: eine vita poetica,
lange jahre kleines persönliches pflücken / und rücken an rücken mit einer luft einem baum
die mit dem persönlichen biographischen Hintergrund, mit Bildung und den Erfahrungen des Dichterinnenlebens ein freies Assoziieren der Wörter untereinander zulässt, bis es zu knistern anfängt und in der frei werdenden Energie ein Gedicht entsteht.
Evelyn Schlag zählt mit ihrem umfangreichen literarischen Schaffen, zu dem neben Gedichten auch Erzählungen und Romane gehören, zu den bekannteren Stimmen Österreichs. Nicht romantisch verklärend, alles andere als verträumt und niemals Nabelschau sind die 74 Gedichte von Evelyn Schlags jüngstem Buch, die im Strom dieser Begegnung entstanden und in 8 programmatische Zyklen unterteilt sind. Thematisch spannt die 1952 geborene Lyrikerin einen weiten Bogen von den Kriegs- und Nachkriegsjahren mit ihren Beschädigungen und Versehrtheiten zum heutigen politischen Geschehen, verdichtet eigene Kindheits- und Jugenderfahrungen und Bedingtheiten von Heranwachsenden im 21. Jahrhundert, wirft in oft sinnlichen Miniaturen ihren Blick auf Beziehungen zwischen den Generationen, thematisiert Liebe, Krankheiten, Pflege, aber auch Natur, Bewegung und Sport.
Im Gedicht „kaiser franz joseph jubiläums krankenhaus“ stolpern wir gleich zu Beginn in ein bruchloses Nachkriegsgeschehen:
die grüne nachkriegsluft des buchenbergs. ein ex- / ss-gewicht zog jeden splitterfemur wochenlang / gerade. die meisten grau-in-grau heimkehrer // hatten viel gesehen ... es war ein solcher anfang. endlich nur zivile / arm-und-bein frakturen. häusliche gewalt aus / freiem willen. mandeln blinddarm kleines // einmaleins der bundesstraße.
Und im Gedicht „landseligkeit mit starken männern“ betrachten wir eine saubere Nachkriegsidylle:
einer sprang um mich herum wie beim / zerteilen einer sau: am land allein als / frau da muss ein mann her. zwischen / federkernen fließt ein / altes lied und meints nicht bös ... sein vernarbter weltkrieg / macht ihm manchmal in die ärmel ... ich hätts mir singen können.
Humor finden wir auch in anderen Gedichten, z.B. wenn Novalis und Novartis zusammengespielt werden. Manchmal wirkt er allerdings bemüht, etwa wenn die Lyrikerin schreibt „ich laufe / auf dem wort beine davon“. Konsequent wählt Schlag in ihrer Dichtung die Kleinschreibung, sparsam und präzise ist ihre Zeichensetzung, hingebungsvoll ihr Spiel mit der Sprache, z.B. in „renaissancelied“, der Poetin Friederike Mayröcker gewidmet,
... john dowland wie download die damen / laden seine lieder herunter. lautenspiel.
oder ihre Lust an Wortneuschöpfungen: Kopfschnee, Ankunftsinsekten, Nordfrierseiten, Schneegelächter, Flüsterwasser oder Fliehhäuser. Diese zwingen uns innezuhalten, langsam noch einmal zu lesen, zu verlangsamen, um dem Begreifen Zeit und Raum zu schaffen.
Interessant sind Schlags poetische Reaktionen auf das heutige politische Geschehen. So widmet sie sich in ihren Gedichten u.a. der Eurozone, dem Schengenraum, den Hoffnungen einer Olga, Natascha oder Hanna mit ihrer Überdosis Warten auf ein Leben ohne Armut, aber auch Berlusconis Fernsehschirmen, Benazir Bhuttos symbolischer Fraukraft, die sich ohne zittern mit Kajal zu einem großen Augenblick malt, und den verqueren Reisewegen der Wirtschaft, auf denen die Welt bis in den hintersten Winkel geflutet wird.
Am stärksten hat mich allerdings das Gedicht „new york city marathon“ beeindruckt. Sport ist kein allzu gängiges Sujet im Gedicht. Fußballgedichte gibt es, auch einige über das Wandern oder Schwimmen. Selten jedoch wird die Leichtathletik poetisch verdichtet, noch seltener die Frau als Sportlerin thematisiert. Nun legt Schlag eine Hymne an Paula Radcliffe vor, die, wie wir in den knappen, informativen Anmerkungen am Schluss dieses Buches lesen können, nach vielen Verletzungen und der Geburt ihrer Tochter 2007 den NYC-Marathon gewann. Zitiert sei hier nur der Anfang, der vielleicht Lust auf mehr macht:
guten tag paula radcliffe im überflugsglück. / bei jedem schritt schon im geist und im ziel. / ein spätherbst auf fliehenden sohlen. asphalt // ist ein himmel den du mit füßen trittst.
Fixpoetry 2014
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben