Vor der Zeit
Wer zum genussvollen Lesen eines der schön gestalteten Bücher der im Lilienfeld Verlag erscheinenden Reihe Lilienfeldiana zur Hand nimmt, kann im Grunde nichts falsch machen. Ich habe das einige Male getan, und Bücher von Knud Hjorto oder Norah Lange gelesen, die wundervoll in der Hand lagen und mich enorm unterhielten, die mich meine Gegenwart für einen Moment vergessen ließen, wie man so schön sagt, die mir aber auch einen Blick in eine mir bis dahin verborgene Welt eröffneten.
Jüngst lag mir der Roman „Kramladen des Glücks“ von Franz Hessel so in der Hand. Aufgefallen war mir das Buch aufgrund der wunderbaren Collage von Ruth Habermehl auf dem Einband, und mit ihm begab ich mich in eine Kindheit und Jugend vor 1900 und somit in eine Welt, die, weil der Protagonist des Romans ein junger Jude ist, von den Nazis und ihren Helfershelfern so gut wie ausgelöscht wurde.
Der Roman setzt mit dem Tod der Mutter des Protagonisten ein. Sie stirbt bei Komplikationen einer Schwangerschaft. Fortan wächst Gustav allein mit Bruder, vermögendem Vater und allerlei Hausangestellten auf. Alles ist, wie es in einer Kindheit ist. Schule, Rangordnungskämpfe unter Jungen, erste Liebe, Ruderbootfahren auf einem Parkteich, Studium usw.
Hessel aber schreibt dies in einer Sprache nieder, die das ganze zugleich plastisch werden lässt, und wie nebenbei beschwört er die Aktualität der Zeit herauf. Einmal sieht Gustav eine Einheit Soldaten vor dem Fenster die Straße heraufmarschieren.
Geradezu köstlich und verwirrend ist eine Szene im Zentrum des Buches. Gustav begibt sich auf eine Ferienreise in die Schweiz und gerät dort in einen Zionistenkongress. Ein älterer Herr hat es ihm besonders angetan, dessen Beschreibung auf Theodor Herzl passt, jenen zionistischen Autor, der mit „Der Judenstaat“ einen der zentralen Texte dieser Bewegung verfasste. Gustav versucht den Herren auf einem kleineren Treffen wiederzufinden:
„Er fand die Stätte, ein kahles Wohnzimmer voller Schwarzröcke und Kaftane. Er nahm seinen Hut ab, wofür er böse Blicke von den Nachbarn bekam. Da tat er ihn schnell wieder auf. Alle Männer umher hatten die Köpfe bedeckt.“
Gustav verwirft angesichts dieser Begegnung, und angesichts eines Kramladens mit allerlei Süßigkeiten und Spielzeug seinen Vorsatz weiter ins Berner Oberland zu reisen, und fährt stattdessen seinen Vater an der Nordsee besuchen, in jenes Haus, in dem die Familie immer die Ferien verbrachte, und in dem auch die Mutter gestorben war.„Wenn ich jetzt ein kleiner Bube wär, könnte ich jetzt da hineingehen, und mir für zehn Pfennige was kaufen Warum bin ich denn erwachsen? Und seit wann?“ Das ist wohl der Gedanke, der die Kindheit endgültig beendet. Aber der Protagonist findet sich nicht in einem Zustand der Befreiung: „Es war doch schrecklich, dass er nirgends hingehörte, dass ihm 'die ganze Welt offen lag', wie die Leute sagten.“
Der Kramladen des Glücks ist nach „Heimliches Berlin“ der zweite Roman Hessels, den der Lilienfeld Verlag neu aufgelegt hat und ist mit einem instruktiven Nachwort von Manfred Flügge ausgestattet. Der Verlag macht damit einen mehr oder weniger vergessenen Autor wieder zugänglich. Hessel wurde 1880 in Stettin geboren und starb 1941 kurz nach seiner Entlassung aus dem berüchtigten Internierungslager Les Milles in Aix-en-Provence an den Folgen seiner Lagerhaft in Sanary-sur Mer. „Dieses Buch muss man zweimal lesen“, schreibt Flügge, „das zweite Mal, nachdem man alles von Hessel weiß und kennt.“
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